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Gesellschaft für Vervielfältigende Kunst [Hrsg.]
Die Graphischen Künste — 29.1906

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Clément-Janin, ...: Steinlen
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https://doi.org/10.11588/diglit.4255#0084
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STEINLEN.

»Der menschliche Geist will nichts mehr wissen von Bildern; Ideen allein beschäftigen ihn
noch. Was heut' ihn fesselt und rührt, das ist das Trauerspiel des menschlichen Elends oder das
Leben der Natur: das Sittenbild, die Landschaft. Da findet er wie in einem Gedicht das Bekenntnis
einer leidenschaftlichen Seele, eine Art Urteil über das Leben; in Formen und Farben sucht er
Empfindungen und Gefühle.«

So schreibt Taine in seiner »Italienischen Reise« und hat mit diesen Worten gezeigt, worin sich
die moderne Kunst unterscheidet von der alten, die mehr äußerlich, mehr bloßer Schmuck
gewesen ist.

Steinlen hat Taines Programm der modernen Kunst befolgt, wohl unbewußt und ohne den
berühmten Kritiker und Philosophen gelesen zu haben. Denn selten nimmt sich der Künstler, bei
uns in Frankreich wenigstens, den Kritiker zum Wegweiser. Er folgt seinem Temperament und
wenn es einmal den Anschein hat, als würde der Künstler von dem Kritiker geführt werden, so ist
dies ein Zusammentreffen, an dem der Künstler unschuldig ist, das aber dem Kritiker zur Ehre
gereicht, da es beweist, daß er die Seelenbeschaffenheit seiner Zeit erfaßt und verstanden hat, was
ja seine Aufgabe ist und sein Dasein rechtfertigt.

Steinlen ist kraftvoll wie Zola. Schreckliche Schreie des Aufruhrs stößt er aus und seine
Beiträge zur »Feuille« und zum »Chambard« sind von einer beispiellosen Bitterkeit. Aber es ist
nicht der Haß, der ihn antreibt, es ist die Gerechtigkeit; seine Bitterkeit und sein Zorn liegen nicht
in den Worten, sie entspringen dem Grunde seines Denkens. Wenn Steinlen die Kraft Zolas hat,
so hat er doch nie dessen Gemeinheit. Er versteht den vierten Stand, wie Millet den Bauern ver-
standen hat, mit all den Mängeln und Flecken, die ihm anhaften, aber auch mit der Größe seines
Strebens. Alillet und Steinlen wissen, daß alles in der Natur schön und edel ist und daß auch das
verworfenste Wesen immer noch seine Schönheit hat. Die ganze Kunst besteht darin, diese her-
vorzuheben, ohne akademisch zu werden, das heißt ohne über die Entstellungen hinwegzutäuschen,
die Arbeit und Elend erzeugt haben.

Was in der Tat bei allen Werken Steinlens auffällt, das ist die immer gleiche Vornehmheit
der Form. Um so mehr fällt dies auf, als er der Illustrator von Schriftstellern gewesen ist, die sich
keineswegs Buffon und seine Spitzenmanschetten zum Muster genommen hatten. Vielmehr holten
sie sich ihre Anregungen geradewegs vom »Pere Duchene«, aus dem Zuchthaus und dem Rinnsal.
Weder in den zwei Bänden »Auf der Straße« noch in den »Selbstgesprächen des Armen« hat sich
Steinlen jemals der Achtung begeben, die man der Kunst und der eignen Würde schuldet. Das
hat ihn aber nicht gehindert, geistreich und feurig zu sein und seine Seele im Sturm der Leiden-
schaft zu zeigen, harmonisch schwingend zu jedem Wehen der Leier, sei diese nun von Gold oder
von Erz.

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