Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Gesellschaft für Vervielfältigende Kunst [Hrsg.]
Die Graphischen Künste — N.F. 3.1938

DOI Artikel:
Voigt, Franz: Eine aufgefundene Tizian-Zeichnung
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.6338#0023
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
dem Original keine unmittelbar
faszinierende Wirkung aus, und
der flüchtige Betrachter kann
den Eindruck haben, daß die
Zuschreibung an den leicht
schaffenden Römer des Hoch-
barock nicht unzutreffend ist.
Allein, schon der Rhythmus des
Motivs mit seiner mehr verhal-
tenen Bewegung und den fließen-
den Formen muß darüber beleh-
ren, daß solche Auffassung nicht
dem XVII. Jahrhundert, son-
dern dem XVI. Jahrhundert
angehört. Bei einem zufälligen
Vergleich des Blattes mit der
vorzüglichen Reproduktion der
„drapierten männlichen Figur"
der Sammlung Königs-Haarlem1
wurde schnell offenbar, wie
stark die Beziehungen zu den
zeichnerischen Reliquien des
großen Venezianers sind.

Das blaugrüne Papier, wahr-
scheinlich etwas beschnitten,
mißt 19 X 26 cm. Fein und zügig
ist mit Kreide zunächst der Um-
riß festgehalten. Deutlich sind
die Konturen auch unter dem
breiten Strich der Kohle zu er-
kennen, mit welcher der Künst-
ler sodann in furiosem Tempo

Kopf und Körper modelliert und mit meisterhaft knappen Andeutungen den Reiz des Momen-
tanen im Faltenrausch des Chorgewandes erweckt, als ob er den Pinsel führe. Ein Stenogramm
der augenblicklichen Eingebung, bei dem vieles unausgesprochen bleiben mußte, was erst in
der Farbe Gestalt erhalten sollte. Diese vielleicht gravierendste und am ehesten methodisch
zu wertende Seite vonTizians wechselvoller zeichnerischer Ausdrucksweise neben dem Haarlemer
Blatt zu prüfen, das mit seinem so verwandten Motiv verschiedene Hände stärker in Gegen-
satz bringen müßte, ist außerordentlich aufschlußreich. Da wird es ganz eindeutig, wie sich der
Künstler zur formalen Behandlung übereinstimmend verhält. Wie er etwa das Gesichtsprofil
herausholt, die Linie vom Hinterkopf in den Hals übergehen läßt, die Hände unglaublich
fragmentarisch behandelt, oder am Gewand durch parallele Züge der Konturen den Raum
gibt, hingegen innerhalb der Fläche durch flüchtig und locker quer über Faltenberge und
-täler gelegte Striche das Schwebende des spielenden Lichtes im Halbschatten zeigt. Dies alles

1 Bl. 6 der XV. Veröffentlichung der Prestel-Gesellschaft „Meisterzeichnungen aus der Sammlung Königs-
Haarlem. — Venezian. Meister; bearb. von D. v. Hadeln, Frankfurt 1933; vgl. auch: D. v. Hadeln, Zeichnungen
des Tizian, Taf. 32.

1. Tizian, Figurenstudie. Kohle und Kreide.
Kassel, Kupferstichkabinett

18
 
Annotationen