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Gesellschaft für Vervielfältigende Kunst [Hrsg.]
Die Graphischen Künste — N.F. 3.1938

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Musper, Theodor: Das Original des gotischen Figuren-Alphabets von 1464
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https://doi.org/10.11588/diglit.6338#0104
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Physiognomie, die sich kaum von der Angeheteten auf dem Buchstaben k unterscheidet. Im
Original ist dagegen ein ganz anderer Typ verwendet. Zudem ist unterschieden zwischen dem
Kopf des Siegers, durch dessen Züge ein feines Lächeln zu gehen scheint, und des Besiegten,
der beinahe aussieht wie ein verkleidetes Mädchen. Ist es nicht, als tröste er sich mit dem Ge-
danken an etwas traumhaft Fernes und Süßes? Der knabenhaft reine Ausdruck wird in der
Kopie männlich bestimmt, aber auch grob. Die Hand verliert dadurch, daß der Unterarm
weiter herausgeschoben wird. Der Ärmel oben ist wie aus Blech, und die Kinnlinie schließt wie
ein Bing. Das Überhangen des Oberkörpers nach rechts auf dem Original ist von dem Kopisten
nicht begriffen und der Sieger wirkt engbrüstig, was nicht beabsichtigt ist. Das fast schleichende
Schreiten mit dem Nachziehen des linken Beines ist in der Kopie zu einem gewöhnlichen Gehen
geworden. Hier fehlt auch die die Bewegung sinnvoll begleitende Falte über dem rechten Knie.
Wie käme der Basler dazu, wenn er der Kopist wäre ? Und nun wird man auch sehen, wie starr
auf der Kopie nicht nur die Hauptkonturen, wie plump und dick sie mitunter gezeichnet sind,
sondern auch wie mechanisch die Schraffur hingestrichen ist. Ist es nicht, als offenbare das
Basler Exemplar erst den Sinn des Ganzen?

Das schlankere Bechteck beim Buchstaben o (Abb. 3 und 7) bringt den Kopisten in Ver-
legenheit. Er konnte ihn nicht bis an den oberen Band verlängern, sonst wäre der Unterschied
gegenüber der Vorlage allzugroß geworden. Statt dessen in Basel ein ganz behagliches Ver-
hältnis zum Bahmen. Alles, was hier im einzelnen fein und subtil durchgezeichnet ist, wird in
der Kopie übertrieben. Die Linien werden stellenweise und ohne Grund verdickt, wodurch das
Brutale im Ausdruck noch unterstrichen wird. Man beobachte etwa, wie der Schnurrbart am
Kopf rechts unten sich mit dem Vollbart verspinnt, wie dieses Ineinanderübergehen angedeutet
ist und vergleiche die schwulstigen Korkzieherlocken auf der Kopie!

Nach diesen Vergleichen wird es nicht schwer fallen, auch im Original des Ornaments
(Abb. 4 und 8) die Feinheit der zu Grunde liegenden Zeichnung zu erkennen und sie zu ver-
gleichen mit der plumpen und schematischen Übertragung des Kopisten, dessen Pflanzen-
stengel Gummischläuchen ähneln und dessen Blätter wie aufgepumpte Kissen wirken.

Das Auge ist reif, um die Schönheit des Basler Alphabets im ganzen zu würdigen. Es wird
bemerken, wie hier alles schon lange gar nicht mehr einem Gesetz der Linie folgt, sondern wie
geringe Differenzierung in der Linie, in ihrer Stärke und in der Schraffur, ein leises Anschwellen,
ein Abbröckeln, eine kleine Auslassung genügen, um jene Imponderabilien des Sichtbaren ein-
zufangen, über die der Kopist hinwegglitt. Daß dies gelang mit Hilfe einer nur optisch an-
deutenden Zeichnung, beweist, wohin dieses Alphabet gehört. Es gehört in das Land, das im
15. Jahrhundert das Auge in der Aufnahmefähigkeit optischer Beize am meisten verfeinert
hatte und in der Abstraktion am weitesten zu gehen vermochte: nach Holland, nach Haarlem.

Das haben auch schon die meisten früheren Forscher gespürt. Laborde4 als erster, dann Lehrs,
Lützow, Schreiber, Kämmerer, auch Springer. Sie alle sahen die Verwandtschaft mit dem
Bibliapauperum-Meister. Dodgson möchte sich ihnen jedoch nicht anschließen. Die Qualität
sei zu hoch und werde nur übertroffen von der Ars moriendi. Er schlägt einen flämischen
Künstler von 1464 vor. Heute, wo wir eine klarere Vorstellung vom Biblia pauperumrMeister
haben, setzen wir das Alphabet ganz in die Nähe des Canticum Canticorum, das dadurch zu-
gleich ein ziemlich genaues Datum erhält.

4 Leon de Laborde, Debüts de l'Imprimerie ä Mainz et ä Bamberg, Paris 1840.

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