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Gesellschaft für Vervielfältigende Kunst [Hrsg.]
Die Graphischen Künste — N.F. 3.1938

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Bodmer, Heinrich: Bemerkungen zu Annibale Carraccis graphischem Werk
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https://doi.org/10.11588/diglit.6338#0113
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und Liniensystem Agostinos, an
welches er sich früher so eng an-
gelehnt hatte, wird nun aufgege-
ben. Der Künstler ist fest ent-
schlossen, seinen eigenen Weg zu
gehen und sich seine Ausdrucks-
mittel selbst zu schaffen. Daß es
dabei nicht ohne Ungelenkigkeiten
abgeht, ist nicht verwunderlich.
Der hl. Franz (B. 15) von 1585
(Abb. 3) stellt den ersten Versuch
der neuen Richtung dar. Die Zeich-
nung ist gegenüber früher persön-
licher und spontaner geworden.
Die Schatten sind mit einer ge-
nialen Nachlässigkeit in die Ge-
wandflächen eingetragen und er-
höhen die malerische Prägnanz
der Gestalt in ihrer Umgebung.
Ungeordnete Linienzüge wischen
über das Antlitz hinweg und die
Hände scheinen unter dem Ein-
griff der über die Finger gelegten
Linien zu verkümmern. Von einer
neuen Kühnheit ist das Motiv des
von der Gestalt des Heiligen aus-
gehenden Strahlen- und Licht-
kranzes, den der Künstler als lumi-
naristisches Phänomen mit einer
bisher unbekannten Wirklichkeits-
treue wiedergibt. Auf der gleichen
Stufe technischen und künstleri-
schen Könnens steht die Halbfigur

1. Annibale Carracci: Madonna mit dem heiligen Michael (B. 12) des hL Hieronymus (B. 13), in

welcher die „schöne Linie" bewußt
vernachlässigt wird und der graphische Ausdruck eine herbe männliche Eigenwilligkeit an-
nimmt. Noch sorgloser und unbedenklicher faßt der Künstler seine Aufgabe in dem Stich der
„Sitzenden Madonna mit den beiden Kindern" von 1587 (B. 8) an. Auf jede genaue plastisch
körperliche Formbeschreibung ist hier Verzicht geleistet, die Schatten werden locker und
zwanglos, durchaus lediglich nach malerischen Gesichtspunkten, über die gesamte Bildfläche
verteilt. Auch die Handlung, das behagliche Ruhen der lesenden Mutter am Steinsockel, das
muntere Spiel des Kindes mit dem Vogel und das mißvergnügte Beiseitestehen des weinenden
Johannes, ist von einer neuen Unbefangenheit und Frische.

Zu Beginn der Neunzigerjahre läßt der Künstler die letzten Rücksichten auf den zeichnerisch
plastischen Stil seiner Frühzeit fallen und bekennt sich unumwunden zu dem die weitere Ent-
wicklung kennzeichnenden, auf Ton und Lichtdifferenzen aufgebauten malerischen Ideal. In
der hl. Familie im Torbogen von 1590 (B. 11) wird der Eindruck nicht mehr von irgendwelchen

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