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Gesellschaft für Vervielfältigende Kunst [Hrsg.]
Die Graphischen Künste — N.F. 4.1939

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Bodmer, Heinrich: Die Entwicklung der Stechkunst des Agostino Carracci, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.6339#0128
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drucks durchringen konnte. Künftighin besteht die Erscheinung für Agostino nicht mehr in
einer körperlich undurchdringlichen, plastischen Substanz, sondern die Oberfläche beginnt
sich unter dem Einfluß des das Wesen der Dinge verändernden Lichtes zu beleben.

Schon das erste unzweifelhaft eigenhändige Werk Agostinos, eine „Madonna auf der Mond-
sichel" (B. 37) nach einem Vorbild Sabattinis, die 1575 datiert ist, steht im Zeichen der Aus-
einandersetzung mit Cort. Genau wie dieser Meister bewältigt Agostino die Formerscheinung,
indem er sie durch ein System sorgfältig und in gleichen Abständen nebeneinandergesetzter
Linien umschreibt. Wie bei Marcanton, dem Begründer des italienischen Kupferstiches des
Cinquecento, kommt auch hier der Kontur eine ausschlaggebende Bedeutung für das Zustande-
kommen der Form zu. Aber ebenso wesentlich für den Eindruck ist das dichte Netz regel-
mäßiger Strichlagen, welche in größerer und geringerer Dichte die gesamte Oberfläche mit
Ausnahme der ausgesparten Lichtzonen bedecken und der äußeren Erscheinung ihre körper-
liche und materielle Wirklichkeit verleihen.

Genau nach diesem Prinzip ist auch ein Blatt der „hl. Familie mit der hl. Katharina"
(B. 94) nach einem Gemälde des Bagnacavallo behandelt, welches außer dem Datum 1576
die erste volle Unterschrift des Künstlers „Agusti Cre." trägt (Abb. 3). Er nennt sich hier
nach dem Ursprungsort seiner Familie Cremona, eine Namensform, die nur zu Beginn seiner
Laufbahn auftritt und sjiäter vollständig verschwindet. Wiederum beruht die künstlerische
Wirkung auf der schönen Transparenz der Linienfolgen, die auch an den Stellen größter
Dunkelheit klar und durchsichtig bleiben und damit ihre Herkunft von Corts graphischem
Stil bekunden. Dieses System der linearen Behandlung steht im Dienste der körperlichen
Klarheit und plastisch räumlichen Evidenz der Form, die in weicher plastischer Bundung
ohne alle Härten ruhig und sachlich herausgearbeitet wird. Es handelt sich im Grunde
genommen noch immer um die von Baimondi zu klassischer Geltung erhobene Form des
graphischen Ausdruckes, nur mit dem wesentlichen Unterschied, daß jetzt die Erscheinung
ein ungleich höheres Maß materieller Wirklichkeit und äußerer Lebensnähe aufweist. Unter
dem Einfluß von Licht und Schatten, welche sanft über die Formen hinweggleiten und die
Bestimmtheit des körperlichen Eindruckes erzeugen, entsteht um die Gruppe eine Raum-
schicht von mäßiger Tiefe, die genügt, um der Erscheinung Selbständigkeit innerhalb der
Bildfläche zu verleihen und sie gegen ihre Umgebung abzusetzen.

Die Gruppe der beiden besprochenen Frühwerke läßt sich erweitern durch vier Darstel-
lungen weiblicher Heiliger (Katharina [Abb. 4], Lucia, Margaretha und Agatha), die Bartsch
zwar nicht kennt, die aber deutlich den Stempel eigenhändiger und charakteristischer Werke
Agostinos tragen.2 Diese Heiligen sind in derselben ruhigen und formcnklaren Art durch-
modelliert und in dasselbe transparente Netz parallel verlaufender, mit den Formen schwin-
gender Linien eingebettet, wie im Stich der heiligen Familie vom Jahre 1576. Sie zeigen
eine so weitgehende technische und künstlerische Ubereinstimmung mit dieser Arbeit, daß
man eine gleiche Entstehungszeit annehmen muß. Allen diesen Arbeiten ist die gleiche sorg-
fältige Zeichnung gemeinsam. Die äußere Formengebung ist nicht die des bolognesisch mittel-
italienischen Manierismus, sondern sie steht der Auffassung der Kunst der Hochrenaissance
noch näher. Eine gewisse Befangenheit und Zurückhaltung im graphischen Ausdruck läßt
sich nicht verkennen. Doch wird der Künstler mit fortschreitender Entwicklung diesen Mangel
sehr bald überwinden.

Dürfen wir Malvasia Glauben schenken, so gibt es eine noch frühere Arbeit Agostinos,
welche uns erlaubt, die Entwicklung des Künstlers bis in das Jahr 1574 zu verfolgen: die

2 Dresden, Staatliches Kupferstichkabinett, Klebeband A 927 B, S. 204.

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