D e u t u n
Der Gedankengang des Yorauer Kanonikus erfährt durch das 1477 in Augsburg er-
schienene „ifuch von den sieben Todsünden und den sieben Tugenden" eine ungeahnte
Verbreitung, die in erster Linie auf den beigegebenen volkstümlichen Holzschnitten
beruht (76), die vielfach den Teppichwirkern unmittelbar als Vorlage dienten. Ver-
einzelt mögen auch die im 16. Jahrhundert im Drucke erschienenen „Sermones de
symbolica colluctatione Septem Vitiorum et Virtutum" des Bernard von Lutzembourg
benutzt worden sein. Das 1499 von dem Pariser Verard gedruckte „Chäteau de la-
bour" vertritt, in Anlehnung an die deutsche Auffassung, gleichfalls den Turniergedanken,
der, entsprechend dem Rosenroman, sich auf einem Traume aufbaut. Die zahlreichen
noch erhaltenen Bildteppiche mit dem Kampfe der Tugenden und Laster gehören zu-
meist dem Beginne des 16. Jahrhunderts an. Die straffe Turnierform hat sich gelockert,
das Bild ist flüssiger und leichter geworden, die Embleme wechseln, die seltsamen
Reittiere werden in der Regel unverändert beibehalten. Christus erscheint als schwer-
bewaffneter Ritter, mit eingelegter Rennlanze, auf dem Einhorn, dem Sinnbilde der Drei-
einigkeit (77). Seine Gegnerin ist zumeist die prächtig gerüstete Superbia, das Dromedar
dient ihr als Reittier. Die vatikanische Bildwirkerei mit dem Kampfe der Tugenden
und Laster hält sich an den Augsburger Druck — Neid reitet auf dem Eber, Drache
und Fledermaus sind ihre Abzeichen usw. —; in der prächtigen Version, einst im Be-
sitze des Baron Erlanger, reitet „Neid", dem Vorauer Manuskript entsprechend, auf dem
Drachen, Keuschheit auf dem Einhorn, Mäßigkeit auf dem Hirsch, Stolz auf dem Dro-
medar usw.. Der Einfluß der Mysterienspiele scheint auf das Motiv nur von geringer
Bedeutung gewesen zu sein. Bekannt ist mir lediglich eine Aufführung in Tours
aus dem Jahre 1390(78), die in mehrere Abteilungen gegliedert war. Voraussichtlich
handelte es sich bei den „Gieux des sept vertuz et des sept pechiez mortelz" um ein
weitläufiges, mit zahlreichen Einzelepisoden ausgestattetes Drama. Es liegt die starke
Wahrscheinlichkeit vor, daß auch die in den Inventuren erwähnten frühen Teppiche
der Tugenden und Laster sich der deutschen Auffassung anschlössen. So besitzt Philipp
der Kühne von Burgund einen „beau tappis des vices et des vertus". 1379 finden wir
in dem Nachlaßinventar Karls V. von Frankreich „le tappiz des Sept pechez mortelz".
Vereinzelte frühe Folgen teilen die Psychomachie in einzelne selbständige Kampfszenen
auf. So enthält das Inventar Ludwigs I. von Anjou vom 5. XI. 1364 einen Behang „de
humilite et d'orgueil".
Eingehender verbreitet sich das Nachlaßinventar (20. August 1574 bis Januar 1575)
der Barbe d'Amboise, Gräfin de Seyssel — La Chambre über „le garniment des tap-
pisseries des Septz Vertuz". Es handelt sich um eine alte Folge, die bereits starke
Defekte aufzuweisen hat. Die Aufstellung beginnt mit der „figure de Prudence —
gemeint ist „Mäßigung" nicht „Klugheit" — „ayant ung horologe sus la teste et des
lunettes ä la main gauche". Es folgt „la Foy, ayant ung pellican sus la teste"; die Be-
nennung ist wiederum unrichtig, nicht der Glaube, sondern die Liebe trägt auf dem
Haupte den Pelikan. Justitia schwingt das Schwert, „Charite" — in Wirklichkeit
„Glaube" — trägt auf dem Kopfe eine kleine Kirche als Symbol; Hoffnung balanziert
eine Galeere, in den Händen Sichel und „l'anterne" — der Inventarbeschreiber sieht
das dieser Figur zustehende Attribut, den Bienenkorb, als Laterne an —; die Beigabe
von „Stärke" wird nicht näher erläutert.
1402 liefert Jehan Cosset in Arras seinem herzoglichen Herrn eine reich mit Gold
durchwirkte Folge der „VII Aages". Es handelt sich um allegorische Darstellungen,
die in engster Beziehung zu den zwölf Monaten stehen, und wohl letzten Endes als
Vorläufer der bekannten, in unzähligen Wirkereifolgen wiederholten Lebensgeschichte
des naturderben Schäferpaares Gombault und Mac6e anzusehen sind. Grundlegend ist
ein noch erhaltenes Gedicht aus der Zeit Karls V. von Frankreich (79).
Das Leben wird auf 72 Jahre bemessen und in zwölf Epochen, die den zwölf
Monaten entsprechen, eingeteilt. Der Januar „qui n'a ni force ni vertu" verkörpert
das früheste Kindesalter bis zum vollendeten sechsten Jahre. Die Zeit vom 6. bis 12. Jahre
wird symbolisch mit dem Februar in Verbindung gebracht, usw. Das Motiv erhält sich
88
Der Gedankengang des Yorauer Kanonikus erfährt durch das 1477 in Augsburg er-
schienene „ifuch von den sieben Todsünden und den sieben Tugenden" eine ungeahnte
Verbreitung, die in erster Linie auf den beigegebenen volkstümlichen Holzschnitten
beruht (76), die vielfach den Teppichwirkern unmittelbar als Vorlage dienten. Ver-
einzelt mögen auch die im 16. Jahrhundert im Drucke erschienenen „Sermones de
symbolica colluctatione Septem Vitiorum et Virtutum" des Bernard von Lutzembourg
benutzt worden sein. Das 1499 von dem Pariser Verard gedruckte „Chäteau de la-
bour" vertritt, in Anlehnung an die deutsche Auffassung, gleichfalls den Turniergedanken,
der, entsprechend dem Rosenroman, sich auf einem Traume aufbaut. Die zahlreichen
noch erhaltenen Bildteppiche mit dem Kampfe der Tugenden und Laster gehören zu-
meist dem Beginne des 16. Jahrhunderts an. Die straffe Turnierform hat sich gelockert,
das Bild ist flüssiger und leichter geworden, die Embleme wechseln, die seltsamen
Reittiere werden in der Regel unverändert beibehalten. Christus erscheint als schwer-
bewaffneter Ritter, mit eingelegter Rennlanze, auf dem Einhorn, dem Sinnbilde der Drei-
einigkeit (77). Seine Gegnerin ist zumeist die prächtig gerüstete Superbia, das Dromedar
dient ihr als Reittier. Die vatikanische Bildwirkerei mit dem Kampfe der Tugenden
und Laster hält sich an den Augsburger Druck — Neid reitet auf dem Eber, Drache
und Fledermaus sind ihre Abzeichen usw. —; in der prächtigen Version, einst im Be-
sitze des Baron Erlanger, reitet „Neid", dem Vorauer Manuskript entsprechend, auf dem
Drachen, Keuschheit auf dem Einhorn, Mäßigkeit auf dem Hirsch, Stolz auf dem Dro-
medar usw.. Der Einfluß der Mysterienspiele scheint auf das Motiv nur von geringer
Bedeutung gewesen zu sein. Bekannt ist mir lediglich eine Aufführung in Tours
aus dem Jahre 1390(78), die in mehrere Abteilungen gegliedert war. Voraussichtlich
handelte es sich bei den „Gieux des sept vertuz et des sept pechiez mortelz" um ein
weitläufiges, mit zahlreichen Einzelepisoden ausgestattetes Drama. Es liegt die starke
Wahrscheinlichkeit vor, daß auch die in den Inventuren erwähnten frühen Teppiche
der Tugenden und Laster sich der deutschen Auffassung anschlössen. So besitzt Philipp
der Kühne von Burgund einen „beau tappis des vices et des vertus". 1379 finden wir
in dem Nachlaßinventar Karls V. von Frankreich „le tappiz des Sept pechez mortelz".
Vereinzelte frühe Folgen teilen die Psychomachie in einzelne selbständige Kampfszenen
auf. So enthält das Inventar Ludwigs I. von Anjou vom 5. XI. 1364 einen Behang „de
humilite et d'orgueil".
Eingehender verbreitet sich das Nachlaßinventar (20. August 1574 bis Januar 1575)
der Barbe d'Amboise, Gräfin de Seyssel — La Chambre über „le garniment des tap-
pisseries des Septz Vertuz". Es handelt sich um eine alte Folge, die bereits starke
Defekte aufzuweisen hat. Die Aufstellung beginnt mit der „figure de Prudence —
gemeint ist „Mäßigung" nicht „Klugheit" — „ayant ung horologe sus la teste et des
lunettes ä la main gauche". Es folgt „la Foy, ayant ung pellican sus la teste"; die Be-
nennung ist wiederum unrichtig, nicht der Glaube, sondern die Liebe trägt auf dem
Haupte den Pelikan. Justitia schwingt das Schwert, „Charite" — in Wirklichkeit
„Glaube" — trägt auf dem Kopfe eine kleine Kirche als Symbol; Hoffnung balanziert
eine Galeere, in den Händen Sichel und „l'anterne" — der Inventarbeschreiber sieht
das dieser Figur zustehende Attribut, den Bienenkorb, als Laterne an —; die Beigabe
von „Stärke" wird nicht näher erläutert.
1402 liefert Jehan Cosset in Arras seinem herzoglichen Herrn eine reich mit Gold
durchwirkte Folge der „VII Aages". Es handelt sich um allegorische Darstellungen,
die in engster Beziehung zu den zwölf Monaten stehen, und wohl letzten Endes als
Vorläufer der bekannten, in unzähligen Wirkereifolgen wiederholten Lebensgeschichte
des naturderben Schäferpaares Gombault und Mac6e anzusehen sind. Grundlegend ist
ein noch erhaltenes Gedicht aus der Zeit Karls V. von Frankreich (79).
Das Leben wird auf 72 Jahre bemessen und in zwölf Epochen, die den zwölf
Monaten entsprechen, eingeteilt. Der Januar „qui n'a ni force ni vertu" verkörpert
das früheste Kindesalter bis zum vollendeten sechsten Jahre. Die Zeit vom 6. bis 12. Jahre
wird symbolisch mit dem Februar in Verbindung gebracht, usw. Das Motiv erhält sich
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