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Deutung

Der kurze, vielleicht allzu gedrängte Überblick dürfte immerhin als Grundlage zum
Verständnisse der noch verhältnismäßig zahlreich erhaltenen Bildteppichfolgen der Petrar-
caschen Triumphe genügen.

Zu einer der charakteristischsten Reihen zählen die sechs Teppiche im österreichischen
Staatsbesitz. Die Anlehnung an Petrarca ist unverkennbar. In dem ersten Triumphe
thront Cupido auf dem von zwei Sirenen, einem Taubenpärchen und zwei Böcken
gezogenen Wagen (Abb. 72). Geht das Sirenenmotiv — das Sinnbild der weltlichen Lüste —
auf frühe Bestiarienquellen zurück, so ist die vor dem Liebesgotte aufgepflanzte bren-
nende Fackel — das Zeichen des Lebens — antik. uYolupte", die Wollust, gießt aus
einem Salbengefäß wohlriechendes öl; «Oysivite", der Müßiggang, schiebt das Hinter-
rad. Beide Gestalten kommen in Moralitäten des 15. und 16. Jahrhunderts nicht selten
vor; sie spielen in dem Kampfe um die menschliche Seele eine wesentliche Rolle und
begegnen uns des öfteren in Wandteppichen rein didaktischen Inhalts. Urania mit der
Leier schreitet dem Zuge vorauf- Unter den Rädern winden sich Pyramus und Thisbe,
Herodias, Salomo, Jason, Herkules, Paris und Helena. Die Namen der Besiegten,
sämtlich dem Petrarcaschen Triumphe entnommen, sind den höfischen Kreisen nicht
unbekannt; bilden sie doch die Hauptpersonen der neuesten Moralitäten, der viel-
besprochenen Dramen. Herkules am Scheidewege, von Yoluptas und Yirtus bedrängt,
ist in den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts ein beliebtes Motiv. Pinicianus läßt 1510
die Fabel vor Kaiser Maximilian spielen; der Enkel des Herrschers, der zehnjährige
Karl, verkörpert den Helden. Pyramus und Thisbe wird in Anlehnung an mittel-
alterliche Ovid-Moralisationen zu einer «Moralite nouvelle, recröative et profitable"
umgemodelt (103).

Der zweite Teppich mit dem Triumphe der Keuschheit zeigt die gleiche seltsame
Mischung nordisch-christlich-allegorischer Motive mit neuheidnischem Erleben. Alte
und neue Symbole wirbeln bunt durcheinander.

Eine Yestalin mit Palmzweig und brennender Kerze eröffnet den Zug; hinter ihr
schreitet Hippolytos. Der von zwei Tauben und zwei Einhörnern gezogene Wagen
zermalmt Cupido. Die barfüßige „Chastetö" hält in Nonnentracht, als Gottesbraut,
den Palmwedel in der Rechten; die Linke umschlingt die Säule. Enthaltsamkeit und
Mäßigkeit schieben den Triumphwagen vorwärts. Die Begleiterinnen des Wagens
sind Claudia, Lucretia, Hippo und Deipyle.

Verhältnismäßig stark von antiken Motiven beeinflußt ist der Triumph des Todes über
die Keuschheit (Abb. 73). Die reichgekleideten Parzen thronen auf dem von Ochsen ge-
zogenen Wagen. Pandora mit der verhängnisvollen Büchse schreitet dem Zuge vor-
auf. Yieillesse dreht das vordere Rad, das über Keuschheit und ihre zertrümmerte
Säule dahinrollt. „Innocence", ein Medikus, hält in der Linken hoch erhoben das
Uringlas. Die letztere Figur ist schwer zu deuten. Das Uringlas spielt in übertragenem
Sinne in den zeitgenössischen didaktischen Dichtungen eine wesentliche Rolle. In dem
Arzte verkörpert sich augenscheinlich eine ähnliche Allegorie, wie wir sie beispiels-
weise in der 1533 in Neuchätel im Drucke erschienenen Moralität uChristient6 qui 6tait
malade" entwickelt finden. Der zum Protestantismus übergetretene Dominikaner
Matthieu Malingre schildert, wie „Inspiration" dem Medikus, der den Erlöser versinn-
bildlicht, in einem Uringlase den Harn der leidenden Christenheit überreicht. Nach
einer langatmigen allegorischen Analyse, empfiehlt der Arzt (Christus) den Glauben
nach den Schriften der vier Evangelisten als einziges Heilmittel. „Unschuld" bezeichnet
demnach nicht die als Medikus gekleidete Person, sondern stellt das allegorische Er-
gebnis seiner Analyse dar, die wahre Medizin, die in der Todesstunde Rückhalt und
Kraft verleiht.

Im übrigen ist die Einführung allegorischer Gestalten nicht lediglich eine Eigenart
nordischer Geisteswelt. Auch Petrarca bedient sich in seinem Canzoniere, der die
Triumphe enthält, mehrfach allegorischer Gestalten, die zum großen Teile dem Rosen-
romane entlehnt sind, so Yergogne (Scham), Bon Sens, Modestie, Prestance (stattliches
Aussehen), Gait6, Perseverance, Gloire, Bei Accueil, Prevoyance, Courtoisie, Puretes,

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