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Deutung

gibt eine ungefähre Vorstellung, wie derartige Festattrappen beschaffen waren. War
das „Th6ätre" bei den Krönungsfeierlichkeiten in Reims noch stark von dem Geiste
alter Uberlieferungen, der sich mehr oder weniger glücklich dem Empfinden der
Renaissance anzupassen wußte, durchdrungen, so sind die Baulichkeiten in Lyon ziem-
lich langstielige Nachbildungen antiker Triumphbogen; die reichen allegorischen Zu-
taten, das belehrend-belebende Drum-und-Dran fehlt. Man darf allerdings nicht ver-
gessen, daß Lyon wohl die Stadt Frankreichs war, die am stärksten unter dem Ein-
flüsse Italiens stand. Das französische Florenz mit seinem bildungshungrigen, reichen
Patriziat ergriff mit Eifer jede aus dem NachbarJande herüberwehende geistige An-
regung. Fein gebildete Männer und Frauen, an ihrer Spitze Maurice Sceve, Pernette
du Guillet und in erster Linie die „schöne Seilerin" Louise Labe, schufen nach italie-
nischem Muster die Grundlinien des guten Tones. Die allegorisierende Schrift der „belle
cordiere", der „Debat de folie et d'amour" führt die alten Minnehöfe auf platonischer
Grundlage von neuem ein.

Lyon mit seiner der Bildwirkerei zunächst wrenig günstigen italienisierenden Richtung
steht in scharfem Gegensatze zu den Städten Mittel- und Nordfrankreichs, von Paris,
dem Sitze der konservativen Sorbonne, ganz zu schweigen. Dem Geiste des Mittel-
alters leiht der Humanismus ein fadenscheiniges Mäntelchen. Nicht anders liegen die
Verhältnisse in den spanischen Erblanden.

Das literarische Leben gruppiert sich um die „Landjuweelen", Dichterwettkämpfe,
deren erster bereits 1408 in Oudenaarde stattfand.

Eine noch erhaltene Zeichnung erläutert die Genter Spiele vom Jahre 1539. Das
Theater ist auf dem Marktplatze errichtet. Von drei Seiten offen, wird der Hintergrund
durch den Vordergiebel eines Renaissancebaues geschlossen. Die Halbrotunde der
Mitte findet zu beiden Seiten durch einen doppelten Triumphbogen eine Fortsetzung.
Der Mitteltrakt besitzt zwei übereinander liegende Stockwerke, die beide auf je vier
Säulen ruhen und durch eine mächtige Kuppel gekrönt sind. Das gleiche Abschluß-
motiv zeigt sich an den Seitenflügeln. Von Wappenschildern und allegorischen Figuren
wird reichlicher Gebrauch gemacht. Die ausführliche Schilderung der „Theateranlagen"
Nordfrankreichs, Flanderns und Brabants scheint auf den ersten Blick mit unserem
Thema, der Bildwirkerei, kaum im Zusammenhange zu stehen; tatsächlich bedingt die
Kenntnis des Konstruktionsprinzips das Verständnis einer Reihe der prächtigsten Wand-
teppichfolgen des 16. Säkulums.

Besonders ausgeprägt zeigt sich der Theateraufbau in der Serie „Los Honores" im
spanischen Staatsbesitz. Die Fabel spielt sich vor unseren Augen in Gestalt einer ins
Monumentale gesteigerten Moralität ab. Dem Ernste der Darstellung entsprechend ist
das architektonische Gerippe gewählt. Auch hier waltet ein logisches, streng geordnetes
System. Es ist ein wesentlicher Unterschied, ob eine Komödie, ein Schäferspie], eine
Moralität oder eine Tragödie in Szene geht. Einzelheiten führen zu weit. Der Hin-
weis auf Serlios Architectura, die 1545 im Drucke erschien und sich eingehender mit
der architektonischen Raumanordnung für die verschiedenen Arten der Aufführungen
auseinandersetzt, muß genügen.

Für den vorliegenden Fall, die allegorische Moralität, ziemen sich palastähnliche
Säulenhallen, Tempel oder triumphbogenartige Bauten.

Die Handlung leitet stets ein Prolog ein, den, je nach der Natur des Stückes, eine
allegorische Figur, ein Engel oder der Poet, der „Autor", spricht. Die Bildteppich-
reihe beginnt mit „La Infamia" (Nr. VI nach der Einteilung des Grafen de Valencia,
Nr. IV nach der Emile Males.) Der Autor — es handelt sich wahrscheinlich um den
bekannten Rhetoriker Jean Lemaire — gibt eine kurze Erläuterung der Szenen, die
belehrend dem Beschauer vor Augen treten sollen (Abb. 50). Eine umfangreiche Schrift-
tafel besagt in freier Übertragung: Unsterblichkeit, Nachruhm und Seelenadel verleiht
dir die gütige Gottheit, wenn du ihre Lehren recht befolgst. Du bist unabhängig von
den Tücken des Schicksalsrades, wenn du daran denkst, daß allein edle Vernunft alle
Dinge beherscht, wenn du immerdar das Ende vor Augen hast, wenn du auf den

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