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Deutung

sächlich läßt sich die genaue Aufeinanderfolge ohne das — anscheinend verloren ge-
gangene — Manuskript Lemaires zu kennen, nicht mit Sicherheit festlegen. Der Ge-
dankengang dürfte, wenn man den Prolog als Leitfaden festhält, voraussichtlich folgender
gewesen sein:

Bekämpfe deine schlimmen Regungen mit Klugheit und Stärke — La Infamia, la
Prudencia, El Vicio —, so kann dich das wandelbare Glück nimmer vernichten — la
Fortuna —, bleibe fest im Glauben — la Fe —, so wird dir Ehre und Nachruhm nicht
mangeln — el Honor, la Fama —, du wirst nach einem von innerer Schönheit geadelten
Lebenswandel eingehen zur himmlischen Gerechtigkeit — La Noblesa, La Justicia.

Die dem Anticlaudianus entnommenen Züge fallen etwas aus dem Rahmen der Idee;
sie machen den Eindruck eingeschalteter Intermedien. Wir müssen uns vergegen-
wärtigen, daß die Aufführung einer Tragödie oder einer Moralität nicht wie heutigen
Tages Akt für Akt, der dramatischen Entwicklung folgend, sich vollzieht. Die Farben-
froheit der prächtig ausgestatteten alten Mysterienspiele und Mimodramen büßt selbst
auf dem Boden Italiens nicht ohne weiteres ihre Beliebtheit ein; die Schaulust der
Masse verlangt Ersatz für die lebensprühenden Bilder mit den feierlichen Engeln, den
stets zu dummen Späßen aufgelegten Teufeln und den maschinellen Kunststückchen
jeder Art. Man trägt dem Verlangen insofern Rechnung, als man die Zwischenakte
der antik-modernen Lustspiele, der Pastorellen und Tragödien möglichst glänzend und
üppig ausgestaltet; pantomimische Darbietungen mit Musikbegleitung fehlen nicht.
Nicht selten überwuchern die Intermedien, die sich zu selbständigen Stücken aus-
wachsen, das ganze Spiel. Die später eingelegten Gesangsvorträge wandeln letzten
Endes die Intermedien zu Vorläufern der heutigen Oper (121). Es fehlt naturgemäß
nicht an heftigen Angriffen der führenden Literaten und Kritiker, die die pantomimi-
schen Intermedieneinlagen in Grund und Boden verdammen. So beklagt sich Trissino
in seiner Poetik nicht mit Unrecht darüber, daß es sich für eine Tragödie nicht schicke,
wenn plötzlich „intermedi di moresche (der damals in ganz Europa beliebte Moresken-
tanz) o di buffoni o d'altre cose simili", zur Aufführung gelangen. Die Intermedien
müßten sich zum mindesten dem Charakter des Stückes anpassen. De Sommi spinnt
den Gedanken in seinem Dialog gegen die „Intermedii visibli" weiter. Immerhin lasse
sich, wenn beispielsweise ein tragischer Todesfall auf der Bühne vor sich gehen solle,
gegen ein Auftreten der Parzen im Zwischenakte nichts Wesentliches einwenden.

Am häufigsten finden sich in den Zwischenspielen Verkörperungen der vier Elemente,
der lugenden und ähnlicher allegorischer Gestalten. Dolce geht in der Bearbeitung
von Senecas Trojanerinnen einen Schritt weiter. Er baut die Einlagen zu Opern-
szenen aus und läßt Neptun, Pluto und andere Götter mit den Frauen des Chors und
den Schatten der Unterwelt in Wechselgesängen auftreten.

Die Prüfung der Folge uLes Honores" bestätigt, zumal in den drei Teppichen, die
sich an den Anticlaudianus halten, eine gewisse Anlehnung an frühe Mimodramen.
Die Tätigkeit der sieben Freien Künste als Wagenbauer in «La Prudencia" mutet wie
ein Intermedium an. Die Putten mit den erklärenden Schrifttafeln verstärken den
Eindruck; der Aufbau des Thrones der Justitia — die Bannerträger ziehen die Vor-
hänge zurück — wirkt stark theatralisch, noch mehr die Anordnung des Gerichtshofes
in dem „Ehrenteppich" (Abb. 88).

Von besonderer Eigenart ist der Behang „El Honor" — ein Gegenstück, zusammen
mit einer Wiederholung von El Vicio befindet sich im Besitze des Herzogs von Aren-
berg (122) —, er weist nicht weniger als rund hundert Figuren auf. Der Entwurf
ist trotz der Fülle der Motive klar und übersichtlich gegliedert; er stellt in den Haupt-
zügen eine Gerichtsverhandlung dar; als Leitfaden dient eine Lemairesche Schrift, der
„Temple d'Honneur et de Vertu". Der Inhalt der Dichtung des so oft erwähnten
Rhetorikers wird in zwei Teppichen unserer Folge erläutert, in La Fe und El Honor.
Der Dichter führt Aurora (das Pseudonym der Herzogin von Bourbon) an die Schwelle
eines mächtig aufragenden Gebäudes. Sechs Tugenden „estoient assises sur fermes
embassements d'albätre en sieges de porphyre et couvertes de paveillons de cristal

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