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D e u t u, n g

ist unverkennbar. Es ist bei den verschiedenen noch erhaltenen Wandteppichen aus
der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts mit dem Gleichnisse vom verlorenen Sohn
schwierig zu entscheiden, welcher literarische Einfluß vorwiegt (Abb. 90, 91). Typische
Szenen, wie der Freudentanz der beiden Teufel Belial und Astaroth, sind in Wirke-
reien bislang nicht nachzuweisen.

Herr L. Nardus lieh 1905 zu der Ausstellung Altbrüsseler Kunst einen prächtigen
Behang mit der Parabel vom verlorenen Sohn, der das Motiv rein didaktisch ver-
arbeitet. Der Teppich dürfte . im ersten Jahrzehnt des 16. Säkulums entstanden
sein. In acht Episoden rollt sich das Leben des Leichtfertigen ab. «Mundus", ein
junger Lebemann, und seine Freundin, die elegante Luxuria — der Spiegel ist ihr
Attribut — überreden den leichtfertigen Sohn, dem elterlichen Hause den Rücken zu
kehren. «Verschwendung" nimmt das Reisegepäck in Empfang. Vergebens sucht der
Vater den Sohn zum Bleiben zu bewegen, umsonst deutet Obedientia, eine ernste
Frauengestalt in weißem Schleier, warnend mit dem Schlüssel gen Himmel. Der
leichtsinnige Jüngling hat nur Augen für Mundus und Luxuria mit ihrem lockeren Ge-
folge. Die nächste Episode ist von seltenem Reize. Sie spielt an der Fontaine d'amour,
die ein holder Garten umschließt. Der verlorene Sohn erscheint — ein Anklang an
das Homomotiv — umgeben von seinen guten und schlechten Freunden, von Obedien-
tia und der dornengekrönten Castitas, von Mundus und Luxuria. Auch «Mäßigung"
mit ihrer Uhr fehlt nicht. Frau Venus, im Pupurrnantel, mit strahlendem Diademe, bleibt
Siegerin. Der Jüngling schwört ihr Gefolgschaft; «Affectio seculi" und ihre Freundinnen
sorgen für Kurzweil. Die Warnerinnen kehren ihm den Rücken, das Lotterleben be-
ginnt. Die nächste Szene zeigt den verlorenen Sohn mit Luxuria im Bette; die Leiden-
schaften bedienen das verliebte Paar. Bald naht das Ende mit Schrecken, Luxuria
verlangt den Lohn ihrer Liebe, zornig greift sie nach der Almosentasche des Leicht-
fertigen, der die letzten Geldstücke entrollen. Mundus und das übrige Gesindel voll-
enden die Plünderung. Ohnmächtig schaut Patientia dem Vorgange zu. Hab und Gut
ist vertan; der Hunger erscheint in Gestalt einer berittenen Frau mit gezücktem Schwerte.
Incendium, ihr Begleiter, schleudert die Brandfackel in das reifende Ährenfeld. Mit
dem Bilde schließen die Episoden des Teppichs (131).

Zahlreich sind die dramatisch-moralisierenden Bearbeitungen der Parabeln vom barm-
herzigen Samariter, vom reichen Manne und dem armen Lazarus, von den Arbeitern
im Weinberg, von der Hochzeit des Königssohnes, die mit der Vengeance de N. S.
J6sus-Christ verknüpft wird, und anderer mehr. Die Episoden erscheinen im Wand-
teppich nur selten als selbständiges Motiv. Häufiger findet sich dagegen das Gleichnis
von den klugen und törichten Jungfrauen, das auch in deutschen Bildwirkereien mehr-
fach vorkommt.

Die Geschichte des aufrechten und frommen Grafen Herkinbald ist nicht unbekannt,
Sie bildet in dem berühmten Berner Bildteppiche das Gegenstück zu der Gerechtigkeit
Trajans (Abb. 210). Eine spätere Version (um 1514) im Brüsseler Cinquantenairemuseum
schildert die gleiche Legende. Die Fabel ist alt und reicht bis in das 13. Jahrhundert
zurück. Die Legenden des Berner Teppichs sind dem «Dialogus magnus visionum et
miraculorum (destinctio nona, de corpore Christi, cap. XXX VIII)" entlehnt. Der Ver-
fasser, Cäsarius von Heisterbach, erzählt ausführlich die Geschichte «de Erkenbaldo de
Burdem (Burban = Bourbon), cui idem contigit, cum ei ob occisionem cognati sacra-
mentum fuisset negatum" (132). Mehr denn drei Jahrhunderte lang bleibt die Historie
des Grafen Erkenbaldus, des «vir nobilis et potens", im Volksbewußtsein lebendig, sie
findet um die Mitte des 16. Jahrhunderts eine glanzvolle Auferstehung in Gestalt einer
umfangreichen Moralität.

154-3 erscheint in Lyon die „Moralite" nouvelle d'ung empereur qui tua son nepveu
qui avoit prins une fille a force, et comment le dict empereur estant au lict de la mort,
la saincte hostie lui fut apportee miraculeusement.

Et est ä dix personnaiges, c'est assavoir: L'Empereur, le Chappelain, le Duc, le
Conte, le Nepveu de l'Empereur, l'Escuyer, Bertaut et Guillot, serviteurs du nepveu,

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