Deutung
Allegorische Anspielungen kommen kaum vor. Die Mehrzahl der Puttenfolgen gehört
in das Gebiet der Verdüren. Gewissermaßen als Ausnahme trägt in der «Weinernte"
ein Putto die Siegesfahne Christi, an deren Kreuzesenden Trauben hängen, ein bekanntes
Symbol des Erlösers.
Das 15. Jahrhundert entnimmt dem klassischen Altertum in der Regel nur das Leben
derjenigen großen Männer, die sich in legendäre Beziehungen zu dem Landesherrn
bringen lassen und zu seiner Verherrlichung dienen.
Das 16. Säkulum sucht sich unter dem Einflüsse der italienischen Literatur, von dieser
Tendenz freizumachen. Die antike Legende wird in höfisch-zeremonieller Aufmachung
ihrer selbst willen zum Vortrage gebracht.
Typische Beispiele für die Art der Wiedergabe eines antiken Stoffes sind zwei Teppiche
aus der ehemaligen Sammlung de Somzee. Sie behandeln die Geschichte des Erysichthon
nach der Fassung der Ovidschen Metamorphosen (Abb. 102). Der König von Thessalien,
einst der Liebling der Demeter, bricht in den Hain der Göttin ein, um die heilige
Eiche für seinen neuen Gästesaal fällen zu lassen. Die Episode ist von dem Literaten,
der die Richtlinien für die Folge entwirft, etwas abgeändert worden. Er wandelt die
Göttin, die dem Frevler entgegentritt, in ihr Standbild; aus dem heiligen Walde wird
der Tempel. Der dem flämischen Geiste ungewohnte Hainfrevel wird zur leichtver-
ständlichen Kirchenschändung. Ceres straft den frevlerischen König mit unstillbarem
Heißhunger. Wie loderndes Feuer brennt die Qual; Hab und Gut verwandelt sich in
Speise. Der Fürst sieht zuletzt keinen Ausweg mehr; die Mittel sind erschöpft, er
verhandelt seine Tochter Mestra. Der Verkauf nimmt den Hauptraum des Teppichs
ein. In der Mitte kniet die unglückliche Jungfrau, umgeben von den Damen des Hof-
staates. Vor ihr steht der verzweifelte Erysichthon. Rechts erhebt sich ein Palast im
Stile der flämischen Frührenaissance. Ein Jüngling schreitet die Treppe hinab, aus den
Fenstern lugen Neugierige. Ein mächtiger Altan mit dreifach geteiltem Fenster — die
Pfeiler zeigen noch gothische Fialen — beherrscht das Bild. Der Fries nennt die
Namen der Hauptpersonen der Tragödie: HERIESITON. NEPTVN. MESTRA. Ära
Mittelfenster erscheint ein vornehmer Jüngling, augenscheinlich Neptun, der, von Mit-
leid ergriffen, der unglücklichen Mestra die Gabe der Verwandlung verleiht. Käufer
ist ein bärtiger Alter mit schwerer, goldener Brustkette, dem ein junger Fant zuredend
ins Ohr flüstert.
Der zweite Teppich bringt die Fortsetzung. Links oben drängt ein Käufer die Jung-
frau zum Bette; dank der Gabe Neptuns entzieht sie sich der Umarmung. Sie kehrt
zum Vater zurück; das Spiel beginnt von neuem. Erysichthon verkuppelt, um Mittel
zur Stillung seines verzehrenden Hungers zu beschaffen, immer wieder die Tochter.
Diesmal scheint Mestra keine sonderliche Abneigung gegen ihren Herrn und Gemahl
zu bezeugen. Eine üppige Hochzeitsfeier geht in Szene. Die Darstellung ist von
seltenem Reize. Im Vordergrunde eröffnet das junge Paar in prächtiger Kleidung den
Brautzug; Trommler und Harfner spielen die Weise. Auch der Hofnarr in der Kapuze
mit den Eselsohren fehlt nicht. Verschiedene Gäste genießen die Feier vom Altane
aus, der wiederum die Mitte des Teppichs einnimmt. Die kleine Episode in der oberen
linken Ecke ist augenscheinlich mit Neptun in Verbindung zu bringen; Mestra dankt
dem Gotte für die erlösende Gabe. Das scheußliche Ende des heißhungrigen Königs,
der zuletzt die eigenen Glieder verzehrt, wird nicht zur Darstellung gebracht. Die
Komposition bewegt sich im höfisch-zeremoniellen Rahmen; die Einzelfiguren lassen in
keiner Weise auf einen altgriechischen Mythus aus dem Demeterzyklus schließen; Licht
in das Dunkel bringen erst die den Personen beigefügten Namen.
Nach dem gleichen Rezepte werden die Geschichte des Perseus (Abb. 266) und un-
zählige andere Folgen aus den ersten Jahrzehnten des 16. Säkulums in Szene gesetzt.
In erster Linie bedienen sich die entwerfenden Literaten der Ovidschen Schriften.
Seltsamerweise üben die zahlreichen Seneca- und Sophoclesübersetzungen auf die Bild-
wirkerei keinen wesentlichen Einfluß. Die Tatsache ist um so bemerkenswerter, als
Senecas Phädra im raschen Siegeszuge die gebildete Welt erobert und zu den Lieb-
137
Allegorische Anspielungen kommen kaum vor. Die Mehrzahl der Puttenfolgen gehört
in das Gebiet der Verdüren. Gewissermaßen als Ausnahme trägt in der «Weinernte"
ein Putto die Siegesfahne Christi, an deren Kreuzesenden Trauben hängen, ein bekanntes
Symbol des Erlösers.
Das 15. Jahrhundert entnimmt dem klassischen Altertum in der Regel nur das Leben
derjenigen großen Männer, die sich in legendäre Beziehungen zu dem Landesherrn
bringen lassen und zu seiner Verherrlichung dienen.
Das 16. Säkulum sucht sich unter dem Einflüsse der italienischen Literatur, von dieser
Tendenz freizumachen. Die antike Legende wird in höfisch-zeremonieller Aufmachung
ihrer selbst willen zum Vortrage gebracht.
Typische Beispiele für die Art der Wiedergabe eines antiken Stoffes sind zwei Teppiche
aus der ehemaligen Sammlung de Somzee. Sie behandeln die Geschichte des Erysichthon
nach der Fassung der Ovidschen Metamorphosen (Abb. 102). Der König von Thessalien,
einst der Liebling der Demeter, bricht in den Hain der Göttin ein, um die heilige
Eiche für seinen neuen Gästesaal fällen zu lassen. Die Episode ist von dem Literaten,
der die Richtlinien für die Folge entwirft, etwas abgeändert worden. Er wandelt die
Göttin, die dem Frevler entgegentritt, in ihr Standbild; aus dem heiligen Walde wird
der Tempel. Der dem flämischen Geiste ungewohnte Hainfrevel wird zur leichtver-
ständlichen Kirchenschändung. Ceres straft den frevlerischen König mit unstillbarem
Heißhunger. Wie loderndes Feuer brennt die Qual; Hab und Gut verwandelt sich in
Speise. Der Fürst sieht zuletzt keinen Ausweg mehr; die Mittel sind erschöpft, er
verhandelt seine Tochter Mestra. Der Verkauf nimmt den Hauptraum des Teppichs
ein. In der Mitte kniet die unglückliche Jungfrau, umgeben von den Damen des Hof-
staates. Vor ihr steht der verzweifelte Erysichthon. Rechts erhebt sich ein Palast im
Stile der flämischen Frührenaissance. Ein Jüngling schreitet die Treppe hinab, aus den
Fenstern lugen Neugierige. Ein mächtiger Altan mit dreifach geteiltem Fenster — die
Pfeiler zeigen noch gothische Fialen — beherrscht das Bild. Der Fries nennt die
Namen der Hauptpersonen der Tragödie: HERIESITON. NEPTVN. MESTRA. Ära
Mittelfenster erscheint ein vornehmer Jüngling, augenscheinlich Neptun, der, von Mit-
leid ergriffen, der unglücklichen Mestra die Gabe der Verwandlung verleiht. Käufer
ist ein bärtiger Alter mit schwerer, goldener Brustkette, dem ein junger Fant zuredend
ins Ohr flüstert.
Der zweite Teppich bringt die Fortsetzung. Links oben drängt ein Käufer die Jung-
frau zum Bette; dank der Gabe Neptuns entzieht sie sich der Umarmung. Sie kehrt
zum Vater zurück; das Spiel beginnt von neuem. Erysichthon verkuppelt, um Mittel
zur Stillung seines verzehrenden Hungers zu beschaffen, immer wieder die Tochter.
Diesmal scheint Mestra keine sonderliche Abneigung gegen ihren Herrn und Gemahl
zu bezeugen. Eine üppige Hochzeitsfeier geht in Szene. Die Darstellung ist von
seltenem Reize. Im Vordergrunde eröffnet das junge Paar in prächtiger Kleidung den
Brautzug; Trommler und Harfner spielen die Weise. Auch der Hofnarr in der Kapuze
mit den Eselsohren fehlt nicht. Verschiedene Gäste genießen die Feier vom Altane
aus, der wiederum die Mitte des Teppichs einnimmt. Die kleine Episode in der oberen
linken Ecke ist augenscheinlich mit Neptun in Verbindung zu bringen; Mestra dankt
dem Gotte für die erlösende Gabe. Das scheußliche Ende des heißhungrigen Königs,
der zuletzt die eigenen Glieder verzehrt, wird nicht zur Darstellung gebracht. Die
Komposition bewegt sich im höfisch-zeremoniellen Rahmen; die Einzelfiguren lassen in
keiner Weise auf einen altgriechischen Mythus aus dem Demeterzyklus schließen; Licht
in das Dunkel bringen erst die den Personen beigefügten Namen.
Nach dem gleichen Rezepte werden die Geschichte des Perseus (Abb. 266) und un-
zählige andere Folgen aus den ersten Jahrzehnten des 16. Säkulums in Szene gesetzt.
In erster Linie bedienen sich die entwerfenden Literaten der Ovidschen Schriften.
Seltsamerweise üben die zahlreichen Seneca- und Sophoclesübersetzungen auf die Bild-
wirkerei keinen wesentlichen Einfluß. Die Tatsache ist um so bemerkenswerter, als
Senecas Phädra im raschen Siegeszuge die gebildete Welt erobert und zu den Lieb-
137