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A r r a s

Städte und Land durchstreifen. Die Verhältnisse legen den Gesellen und Arbeitern
naturgemäß die Auffassung nahe, in dem Kaufmann, der ihnen die Rohprodukte liefert
und die fertige Ware verschleißt, den Urheber allen Übels, den Ausbeuter ihrer Lebens-
kraft zu erblicken. Die immerwährenden Unruhen, die die großen Industrieorte
Flanderns und Brabants bis in das 17. Jahrhundert hinein erschüttern, beruhen — eine
fast moderne Erscheinung — in dem nie schweigenden Mißtrauen gegen den Unter-
nehmer und in einem häufigen, starken Verkennen der jeweiligen Lage.

Die Brügger Mette übt wirtschaftlich und politisch die weittragendsten Folgen.
Die Patrizier und das mit ihnen verbündete Frankreich liegen am Boden, das aristo-
kratische Regierungssystem wird durch das Regiment der „Kleinen" ersetzt. Die Aus-
wirkung des Ereignisses äußert sich naturgemäß nicht gleichartig in den verschiedenen
Orten der Grafschaften. In Arras geht die Umbildung verhältnismäßig ruhig vor sich,
trotzdem die Stadt, ähnlich wie Lüttich, eine besonders große Zahl von Tuchhändlern
und Wechslern (Bankiers) aufweist. Es scheint, daß die führenden Männer ein ge-
wisses Verständnis oder zum mindesten politische Klugheit gegenüber den Forderungen
des „Mannes mit den blauen Nägeln" bewiesen haben. Das Streben der Färber und
der mit ihnen gehenden Handwerker, die Wirker eingeschlossen, zielte darauf hin,
sich die gleiche wirtschaftliche Stellung, wie sie die übrigen Zünfte bereits besaßen,
zu erkämpfen. Der Schmied oder Bäcker kauft seine Rohprodukte ein, stellt die
Ware her und verhökert sie im Kleinhandel. Der gleiche Wille beseelt den Weber.
Tatsächlich liegen für ihn die Grundbedingungen wesentlich anders. Nicht der zünftige
Weber bezieht die erforderliche Wolle, sondern der „Poorter", der vermögende Kauf-
mann oder Rentner. Die Rohwolle wird von gewissen Zweigindustrien gebrauchs-
fertig gemacht und gelangt schließlich in die Hände der Tuchweber. Der Verkauf
der hergestellten Stoffe liegt wiederum nicht dem Erzeuger ob, sondern ist Sache des
Kaufmanns. Der Weber ist nichts weiter wie ein Lohnarbeiter, den die Angehörigen
der übrigen Zünfte nicht für voll ansehen, der in elenden Vorstädten haust und von
der Hand in den Mund lebt. Der Kaufmann ist der Brotgeber, der auch technisch
scharfe und rücksichtslose Kontrolle über die mit der Wollverarbeitung betrauten
Gewrerke übt.

Die Brügger Mette macht die bisher Verachteten zu Herren der Lage. Es entsteht
eine Art Rätesystem, das bis zum Frieden von Athis (1304) ein Schreckensregiment
ausübt, ohne von Guido von Dampierre, dem Landesherrn, dessen beste Verbündete
im Kampfe gegen Frankreich die nun Herrschenden waren, sonderlich behindert zu
werden. Am 1. August 1302 gibt Johann von Namur bei seinem Einzüge in Brügge
der Stadt Brief und Siegel, daß in Zukunft jeder Bewohner frei und ungehindert das
ihm zusagende Handwerk oder Geschäft betreiben könne (1). Die Handelsfreiheit
stellt das Gleichgewicht zwischen den Webern und den übrigen Handwerkern her;
sie können nunmehr nach Belieben sich mit Rohprodukten eindecken und Fertig-
erzeugnisse verkaufen. Das gleiche gilt von den Wirkern. Die Gewerbepolizei liegt
nicht mehr in den Händen der Kaufmannschaft, sondern wird von bestimmten, von
der Innung gewählten Organen ausgeübt.

Der Friede von Athis, der die kriegerischen Verwickelungen mit Frankreich abschließt,
macht zugleich der Weberherrschaft ein Ende.

Die Patrizier kehren zurück. Es fehlt nicht an erbitterten Versuchen, die alte Macht-
stellung wieder zu erlangen. Robert III. von Bethune, der 1305 zur Herrschaft kommt,
vergißt den Webern das treue Festhalten an dem Hause Dampierre nicht. Die revo-
lutionären Proletarierregierungen verschwinden zwar; die neuen, selbständigen Zünfte, das
Recht der Handelsfreiheit und die Mitw irkung in der Stadtverwaltung bleiben bestehen.
Es bildet sich ein gewisses Gleichgewicht heraus zwischen der alten herrschenden
Oberschicht, den „poorters", und den Zünften, den „neeringen".

Nach der vorläufigen Beendigung der Unruhen setzt der Außenhandel, das Rück-
grat Flanderns, wieder ein. Weber, Färber und Wirker müssen bald erkennen, daß
sich die neue soziale Lage im Grunde genommen bitter wenig geändert hat. Der

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