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T o u r n a i

Nur einmal wird, um 1340, eine'Folge von zwei mit Gold durchwirkten Personen-
teppichen erwähnt, die Kardinal Andreas Ghiny der Kathedrale zu Tournai schenkt;
nicht das geringste Anzeichen deutet darauf hin, daß die Behänge in der Stadt selbst
entstanden sind, und nicht wie die berühmte St. Piat- und Eleutheriusfolge in Arras
erworben wurden.

Im zwTeiten Drittel des 15. Jahrhunderts beginnen die Tournaiser Ateliers plötzlich
von großen, reichen Bildteppichreihen zu berichten. Jehan du Gardin vermacht der
Nicasiuskirche 1433 verschiedene Passionsteppiche; ob es Erzeugnisse der Heimatstadt
sind, steht dahin. Die Frau des Jehan Ognie stiftet im darauffolgenden Jahre acht
gew7irkte Bankdecken, eine Anzahl Kissen und einen Altarbehang mit zwei Szenen
aus dem Leben der Jungfrau, der Geburt des Herrn, der Anbetung der drei Könige
und „plusieurs autres images de sains (saints)". Es handelt sich augenscheinlich um
eine Wirkerei, die nach dem Grundsatze der Biblia Pauperum entworfen ist. 1444 wird
Robert Dary für die an den Bischof von Tournai, Jehan Chevrot, gelieferten Bild-
teppichpatronen entschädigt. 1446 erfolgt der erste offizielle Auftrag des burgundi-
schen Herzogshauses.

Wer die Geschichte der mittelalterlichen Luxusindustrien kennt, — die Bildteppich-
wirkerei verdient die Bezeichnung in erster Linie — weiß, daß die Gunst des Landes-
herrn oder prunkliebender, benachbarter Herrscher für Existenz und Blühen derartiger
Manufakturen die unerläßliche Grundbedingung war. Es müssen Zwischenglieder von
bestimmendem Einflüsse am Wrerke gewesen sein, um einen Fürsten vom Schlage
Philipps des Guten seinem alten Einkaufsorte, Arras, zu entfremden und ihn Tournai
zuzuführen.

Der Auftrag vom Jahre 1444 gibt den Schlüssel. Der Vermittler war Johann Chevrot,
Bischof von Tournai, der Vertraute des Burgunderherzogs, der Vorsitzende im «Großen
Rate" Philipps des Guten. Durch des Herzogs Gunst wird ihm der Bischofshut
zuteil, er zählt zu den unentwegten Anhängern seines Herrn. Das gleiche Spiel
wiederholt sich bei seinem Nachfolger Wilhelm Filastre, der wie Chevrot Vor-
sitzender des Großen Rates ist und zum Lohne der Treue den Bischofsstuhl von
Tournai besteigt.

Daß Chevrot sich für die Förderung der Bildteppichwirkerei in großzügiger Weise
einsetzt, daß er die ersten Maler der Stadt mit Patronenentwürfen betraut und so den
Grund zu einem raschen Aufstieg der alteingesessenen Ateliers legt, zeugt von wirt-
schaftlichem Verständnis, von einem klaren Erkennen der politischen und sozialen
Lage. Um die Mitte des 15. Jahrhunderts ist Brügges Bedeutung als Hauptstapelplatz
bereits geschwunden; Antwerpen schickt sich an, die führende Rolle auf dem Welt-
markt des Nordens zu übernehmen. Die Scheide wird zur Lebensader Flanderns,
Brabants und der südlichen Niederlande. Für Tournai eröffnen sich durch die neue
Konstellation ungeahnt günstige Aussichten. Die Hauptindustrie der Stadt war und
blieb, ähnlich wie in Arras, nicht die Bildwirkerei — auch nicht in den Tagen höchster
Blüte — sondern die Herstellung von Stoffen. Es ist nicht Sache der vorliegenden
Abhandlung, das Wesen und die Entwicklung dieses Gewerbezweiges näher zu erörtern;
Tatsache ist, daß Tournai sich dem Niederbruch der alten flämischen Tuchmacherei
durch die rechtzeitig einsetzende Aufnahme der Fabrikation leichter wollener Zeuge zu
entziehen weiß. Eine bereits industriell eingestellte Kaufmannschaft, eine vorzügliche
Wasserverbindung mit Antwerpen, die die Einfuhr der spanischen Wolle ermöglicht,
die Arras nur unter Schwierigkeiten erreichen kann, die Gunst so hochgestellter
Herren, wie der jeweiligen Bischöfe, lassen Tournai der altberühmten Wirkerstadt
des Artois den Rang ablaufen. Den letzten Rest gibt Arras die rücksichtslose Züch-
tigung, die nach dem Tode Karls des Kühnen der Herrscher Frankreichs, Ludwig XL,
der unglücklichen Stadt zuteil werden läßt. Die alteingesessenen Bewohner werden
verjagt, aus dem kunstfrohen, erwerbstüchtigen Arras wird ein Ort mit dem ver-
heißungsvollen und doch so leeren Namen „Franchise". Die Krisis von 1477 besiegelt
letzten Endes nur das Absterben der alten Arraser Bildteppichwirkerei, die aus den

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