Brüssel
gehörigen und später ein; umfangreicher Vorrat an Kartons bilden den Grundstock
des Wohlstandes.
Die Zunftordnung, die den Lehrling dem Meister nicht nur zur Erlernung eines be-
stimmten Handwerkes überweist, sondern von ihm auch eine Art staatsbürgerliche
Erziehung verlangt, macht naturgemäß das Wohnen des Lernenden in dem Hause
seines Lehrers zur ersten Bedingung. Die Lebenshaltung des jungen Menschen ist
vom 13. bis zum 15. Jahrhundert in Paris und in Brüssel annähernd die gleiche. Das
unerlaubte Entfernen von der Meisterwohnung ist verboten. Paris hält noch rigoros an
ein bzw. zwei Tagen fest, Brüssel läßt dem Lehrling 15 Tage Zeit, ehe bei ungenü-
gender Entschuldigung die Strafe in Kraft tritt. Hier wie dort werden unverbesser-
liche Bummelanten aus der Innung entfernt; der Meister ist verpflichtet, etwaiges
Herumtreiben seines Pflegebefohlenen den Innungsgeschworenen zur Anzeige zu bringen.
Der Ablauf der Lehrzeit macht den Lehrknapen zum Gesellen. Die Lebenswende
des jungen Menschen ist gekommen. Entweder, er hat durch seine Geburt als Meister-
sohn die Gewißheit, die Klippe der sonst kostspieligen Meisterprüfung leicht zu um-
gehen, oder ein einigermaßen gefüllter Beutel hilft ihm über die Schwierigkeiten fort,
oder er bleibt Geselle und armer Teufel sein ganzes Leben lang.
Die Wesensart der einzelnen Wirkerstädte erleichtert oder erschwert das Aufsteigen
zur Meisterwürde. In Orten mit stark kommerziellem Einschlage, wie in Oudenaarde,
bilden die Gesellen die große Masse. Die industrielle Herstellung der Wirkereien, der
schnelle Vertrieb, verlangen ausgedehnte kaufmännische Verbindungen, Handelsnieder-
lassungen und Vertretungen in den maßgebenden Plätzen, in erster Linie in Antwerpen,
die von vornherein große geldliche Mittel voraussetzen. Der Knape wird zum recht-
losen Proletarier, zum unzufriedenen, ewig zum Umsturz geneigten Gesellen. Andere
Manufakturen wieder wie z. B. Valenciennes halten an der Vorväterweise fest. Es werden
einfache, gut handwerksmäßige Arbeiten geliefert. Der Beruf reicht eben zum Satt-
essen, von einem Lehrlingsandrang ist nichts zu spüren. Auch hier geht die Manu-
faktur von Vater auf Sohn und Enkel über unter dem immer schläfriger werdenden
Schlage der ablaufenden Zunftuhr.
Brüssel hält etwa die Mitte zwischen beiden Extremen, es fehlt auch nicht an Ge-
sellenputschen, an wirtschaftlichen Schwierigkeiten jeder Art. Die Ursachen liegen nur
zum geringen Teile in der unverkennbaren Rückständigkeit der wirtschaftlichen Ver-
fassung begründet, Die Bildwirkerei ist geradezu das Musterbeispiel eines typisch
konservativen, fast reaktionären Wirtschaftswesens. Wrie Stoffgebiete aus der Literatur
erst übernommen werden, wenn das Thema aufgehört hat, aktuell oder gar anstoß-
erregend zu sein, so kommt die edle Zunft der Wirker erst zu Neuerungen, wenn
sie bereits längst überholt sind. Der in einem angesehenen Mittelbetriebe tätige Wirker-
geselle lebt seiner, zum Sinnen und Grübeln verleitenden Arbeit, solange ihn nicht
religiöse Hetzerei oder eine völlige Umwälzung der gewohnten Lebensbedingungen
aus dem Gleise wirft. Der Hinweis auf die Oudenaarder und Genter Unruhen, bei
denen der ländliche, zum verbitterten Tagelöhner herabgesunkene Tapissier eine Haupt-
rolle spielt, gibt ein schiefes Bild. Ebensowenig können die in der Fremde herum-
streifenden Gesellen, die in den deutschen Gerichtsakten des öfteren in wenig erfreulicher
Weise auftauchen, zum Vergleiche herangezogen werden. Prügelei, Saufen und Randa-
lieren machten in den Zeitläuften des ausgehenden 15. Jahrhunderts einen Menschen
durchaus noch nicht zu einem verabscheuenswerten Subjekt — am wenigsten in
Deutschland —, sofern er sich von gefährlicheren Körperverletzungen fern hielt. Es
ist typisch, daß kaum einer der fern der Heimat „wandelbaren gesellen" es zu einem
selbständigen Betriebe gebracht hat. Sollte nicht ein gut Teil der Abgewanderten — die
Manufakturen, die aus Religionsgründen den Wohnsitz wechseln, sind naturgemäß aus-
genommen — aus minderwertigem Materiale bestanden haben? Ein unklarer Freiheits-
drang, der Haß gegen allzu drückende Zunftfesseln, sind vielfach die Gründe, die die
jungen Wirker aus Brabant und Flandern treiben; daneben spielen unliebsame poli-
tische und wirtschaftliche Verhältnisse in den mehr industriellen Zentren eine gewisse
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gehörigen und später ein; umfangreicher Vorrat an Kartons bilden den Grundstock
des Wohlstandes.
Die Zunftordnung, die den Lehrling dem Meister nicht nur zur Erlernung eines be-
stimmten Handwerkes überweist, sondern von ihm auch eine Art staatsbürgerliche
Erziehung verlangt, macht naturgemäß das Wohnen des Lernenden in dem Hause
seines Lehrers zur ersten Bedingung. Die Lebenshaltung des jungen Menschen ist
vom 13. bis zum 15. Jahrhundert in Paris und in Brüssel annähernd die gleiche. Das
unerlaubte Entfernen von der Meisterwohnung ist verboten. Paris hält noch rigoros an
ein bzw. zwei Tagen fest, Brüssel läßt dem Lehrling 15 Tage Zeit, ehe bei ungenü-
gender Entschuldigung die Strafe in Kraft tritt. Hier wie dort werden unverbesser-
liche Bummelanten aus der Innung entfernt; der Meister ist verpflichtet, etwaiges
Herumtreiben seines Pflegebefohlenen den Innungsgeschworenen zur Anzeige zu bringen.
Der Ablauf der Lehrzeit macht den Lehrknapen zum Gesellen. Die Lebenswende
des jungen Menschen ist gekommen. Entweder, er hat durch seine Geburt als Meister-
sohn die Gewißheit, die Klippe der sonst kostspieligen Meisterprüfung leicht zu um-
gehen, oder ein einigermaßen gefüllter Beutel hilft ihm über die Schwierigkeiten fort,
oder er bleibt Geselle und armer Teufel sein ganzes Leben lang.
Die Wesensart der einzelnen Wirkerstädte erleichtert oder erschwert das Aufsteigen
zur Meisterwürde. In Orten mit stark kommerziellem Einschlage, wie in Oudenaarde,
bilden die Gesellen die große Masse. Die industrielle Herstellung der Wirkereien, der
schnelle Vertrieb, verlangen ausgedehnte kaufmännische Verbindungen, Handelsnieder-
lassungen und Vertretungen in den maßgebenden Plätzen, in erster Linie in Antwerpen,
die von vornherein große geldliche Mittel voraussetzen. Der Knape wird zum recht-
losen Proletarier, zum unzufriedenen, ewig zum Umsturz geneigten Gesellen. Andere
Manufakturen wieder wie z. B. Valenciennes halten an der Vorväterweise fest. Es werden
einfache, gut handwerksmäßige Arbeiten geliefert. Der Beruf reicht eben zum Satt-
essen, von einem Lehrlingsandrang ist nichts zu spüren. Auch hier geht die Manu-
faktur von Vater auf Sohn und Enkel über unter dem immer schläfriger werdenden
Schlage der ablaufenden Zunftuhr.
Brüssel hält etwa die Mitte zwischen beiden Extremen, es fehlt auch nicht an Ge-
sellenputschen, an wirtschaftlichen Schwierigkeiten jeder Art. Die Ursachen liegen nur
zum geringen Teile in der unverkennbaren Rückständigkeit der wirtschaftlichen Ver-
fassung begründet, Die Bildwirkerei ist geradezu das Musterbeispiel eines typisch
konservativen, fast reaktionären Wirtschaftswesens. Wrie Stoffgebiete aus der Literatur
erst übernommen werden, wenn das Thema aufgehört hat, aktuell oder gar anstoß-
erregend zu sein, so kommt die edle Zunft der Wirker erst zu Neuerungen, wenn
sie bereits längst überholt sind. Der in einem angesehenen Mittelbetriebe tätige Wirker-
geselle lebt seiner, zum Sinnen und Grübeln verleitenden Arbeit, solange ihn nicht
religiöse Hetzerei oder eine völlige Umwälzung der gewohnten Lebensbedingungen
aus dem Gleise wirft. Der Hinweis auf die Oudenaarder und Genter Unruhen, bei
denen der ländliche, zum verbitterten Tagelöhner herabgesunkene Tapissier eine Haupt-
rolle spielt, gibt ein schiefes Bild. Ebensowenig können die in der Fremde herum-
streifenden Gesellen, die in den deutschen Gerichtsakten des öfteren in wenig erfreulicher
Weise auftauchen, zum Vergleiche herangezogen werden. Prügelei, Saufen und Randa-
lieren machten in den Zeitläuften des ausgehenden 15. Jahrhunderts einen Menschen
durchaus noch nicht zu einem verabscheuenswerten Subjekt — am wenigsten in
Deutschland —, sofern er sich von gefährlicheren Körperverletzungen fern hielt. Es
ist typisch, daß kaum einer der fern der Heimat „wandelbaren gesellen" es zu einem
selbständigen Betriebe gebracht hat. Sollte nicht ein gut Teil der Abgewanderten — die
Manufakturen, die aus Religionsgründen den Wohnsitz wechseln, sind naturgemäß aus-
genommen — aus minderwertigem Materiale bestanden haben? Ein unklarer Freiheits-
drang, der Haß gegen allzu drückende Zunftfesseln, sind vielfach die Gründe, die die
jungen Wirker aus Brabant und Flandern treiben; daneben spielen unliebsame poli-
tische und wirtschaftliche Verhältnisse in den mehr industriellen Zentren eine gewisse
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