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Grimm, Herman
Michelangelo: sein Leben in Geschichte und Kultur seiner Zeit, der Blütezeit der Kunst in Florenz und Rom — Berlin: Safari-Verlag, 1941

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https://doi.org/10.11588/diglit.71912#0058
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Michelangelo, Leonardo und Raffael in Florenz
von ihm erbaut worden war. Schon 1521 als Albrecht Dürer durch Brügge kam, stand Michel-
angelos Werk im Dome, und er wurde hingeführt, um es zu bewundern.
Diese Madonna ist mit ungemeiner Sorgfalt ausgeführt. Sie ist einfacher als die römische.
Sie ist lebensgroß. Sie sitzt da, von der zartesten Gewandung umhüllt, das Kind steht zwischen
ihren Knien, an das linke angelehnt, dessen Fuß auf einen Steinblock auftritt, so daß es um ein
geringeres höher als das rechte aufragt. Auf diesem Steine steht auch das Kind, und zwar als
wollte es eben herabsteigen. Seine Mutter hält es mit der linken Hand zurück, während die
Rechte mit einem Buche in ihrem Schoße ruht. Sie blickt geradeaus, ein Tuch ist ihr über das
Haar gelegt und fällt zu beiden Seiten auf Hals und Schultern anschmiegsam herab. In ihrem
Antlitz, ihren Blicken hegt sie eine wunderbare Hoheit, einen königlichen Ernst, als fühle sie
die tausend frommen Blicke des Volkes, das zum Altäre zu ihr aufsieht. Wollte man ihr, wie
es Sitte ist, von irgendeinem kleinen Abzeichen einen Beinamen geben, so könnte dies von
der straffen Falte ihres Gewandes sein, die von der Spitze ihres linken Knies durch das darauf-
tretende Kind seitwärts niedergezogen wird. Das Kind aber gleicht durchaus dem kleinen
Johannes auf dem Gemälde der Nationalgalerie zu London. Die Ähnlichkeit erscheint so auf-
fallend, daß die Verwandtschaft der Arbeiten, einer doppelten Blüte gleichsam, die denselben
Gedanken entsprang, kaum abzuweisen ist.
Wir haben einen Abguß der Madonna in Berlin. Ich ging eines Morgens in das Museum, als
die bleiche Januarsonne auf die Statue fiel. Ein leichtes goldenes Licht streifte sie von der
Seite, das sanft leuchtete, ohne das übrige in Schatten zu bringen. Ein wunderbares Leben sah
ich über die Gestalt ausgegossen. Das Antlitz als atmete es, ein liebliches Profil, eine entzückend
sanfte Modellierung des Mundes und des Kinnes. Die Hände so weich; der Faltenwurf ist
leicht. Besonders schön die Hand, in deren Finger die des Kindes hineingreift. Dabei bot sich
die Gestalt, von allen Seiten ringsum betrachtet, in vollendeter Durchführung dar.
Verwandt mit der Madonna in Brügge auch ist ein in Florenz befindliches, unvollendetes
Basrelief einer sitzenden Madonna, vor deren Knien das Jesuskind steht, das Händchen auf
ein offenes Buch gelegt. Unvollendete Werke großer Meister erwecken in der Phantasie des
Betrachtenden immer unbestimmte Erwartungen: auch hier möchte man vermuten, es könne
etwas zustande gekommen sein, was andere Arbeiten Michelangelos vielleicht noch über-
troffen hätte.
Die Heilige Das Gemälde, das ich in die gleiche Zeit setze, ist für Angelo Doni gemalt worden und steht
Famtliefar heute ebenfalls in vorzüglichem Zustande, in der Tribüne der Uffizien zu Florenz. Die Jung-
Bild s. 269 frau kniet dem Zuschauer entgegen mit beiden Knien auf dem Boden und empfängt nach rück-
wärts gewandt in ihre Arme das Kind, welches ihr Joseph über ihre rechte Schulter von hinten
herreicht. Die Figuren sind etwas weniger als lebensgroß genommen. Johannes kommt von
weitem heran, klein und ohne Zusammenhang mit der Hauptgruppe; den Hintergrund füllt
eine Anzahl nackter männlicher Gestalten, die in verschiedenen Bewegungen im Halbkreise
stehend oder sitzend, durchaus nichts mit der Heiligen Familie zu tun haben. Sie sind entfernt
und klein, aber mit großer Sorgfalt gemalt und musterhaft gezeichnet. Die Gruppierung der
Heiligen Familie selbst dagegen erscheint mir gesucht. Die Farben sind mit der erdenklichsten
Sorgfalt aufgetragen, aber das Kolorit hat an der Stelle, wo das Gemälde steht, nichts frisches,
blühendes. Ich sah es einmal, aber in einem der helleren Seitenräume der Tribuna. Nun erschien
es ganz licht und unglaublich zart ausgeführt. Alles feiner, durchsichtiger, ja anmutiger, als ich
es vorher je gesehen. Angelo Doni bezahlte es mit siebzig Dukaten. Die Angabe dieser Summe
bei Condivi widerlegt die Anekdote, welche Vasari erzählt, derzufolge Michelangelo von

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