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Grimm, Herman
Michelangelo: sein Leben in Geschichte und Kultur seiner Zeit, der Blütezeit der Kunst in Florenz und Rom — Berlin: Safari-Verlag, 1941

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https://doi.org/10.11588/diglit.71912#0113
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Moses und der sterbende Jüngling

Wer die Statue einmal gesehen hat, dem muß ihr Eindruck für immer haften bleiben. Eine
Hoheit erfüllt sie, ein Selbstbewußtsein, ein Gefühl, als ständen diesem Manne die Donner
des Himmels zu Gebote, doch er bezwänge sich ehe er sie entfesselte, erwartend ob die Feinde, die
er vernichten will, ihn anzugreifen wagten.
Er sitzt da, als wollte er eben aufspringen, das Haupt stolz aus den Schultern in die Höhe
gereckt, mit der Hand, unter deren Arme die Gesetzestafeln ruhen, in den Bart greifend, der
in schweren Strömen auf die Brust sinkt, mit weit atmenden Nüstern und mit einem Munde,
auf dessen Lippen dieWorte zu zittern scheinen. Ein solcher Mann vermochte wohl ein empörtes
Volk zu dämpfen und wie ein wandelnder Magnet es mitten durch die Wüste und durch das
Meer selber sich nachzuziehen.
Der Moses ist die Krone der modernen Skulptur! Nicht allein dem Gedanken nach, sondern
auch in Anbetracht der Arbeit, die, von unvergleichlicher Durchführung, sich zu einer Fein-
heit steigert, die kaum weitergetrieben werden könnte. Welch ein Paar Schultern mit den
Armen daran! Welch ein Antlitz! Die drohend sich zusammenballenden Stirnmuskeln, der Bild s. 307
Blick, als überflöge er eine ganze Ebene voll Volkes und beherrschte es, die Muskeln der
Arme, deren unbändige Kraft man empfindet! Was meißelte Michelangelo in diese Gestalt
hinein? Sich selbst und Julius: beide scheinen sie drinzustecken. All die Kraft, die Michelangelo
besaß, unverstanden von der Welt, zeigte er in diesen Gliedern, und die dämonisch aufbrausende
Gewaltsamkeit Julius' in seinem Antlitz. Man fühlt, wie Ulrich von Hutten von diesem Papste
in bewundernder Ironie sagen konnte, er habe den Himmel mit Gewalt stürmen wollen, als
man ihm oben den Eintritt verweigerte.
Sicher wissen wir, daß Michelangelo im ersten Jahre Papst Leos auch an einem der beiden Der sterbende
gefesselten Jünglinge arbeitete, welche damals noch für das Grabmal bestimmt, später, als B'iid'fyii
die Maße verkleinert wurden, als zu kolossal fortblieben und nach Frankreich kamen. König
Franz schenkte sie dem Connetable von Montmorency, der sie als äußerlichen Schmuck seines
Schlosses in Ecouen aufstellte. Von dort brachte sie der Kardinal Richelieu in eins seiner Schlösser
von Poitou, seine Schwester sie in späteren Zeiten nach Paris, 1793 wurden sie dort öffentlich
verkauft und für das Museum des Louvre erstanden, in dem sie heute sind.
Die eine dieser beiden Statuen ist es, die als Gegensatz des Moses angeführt werden soll,
damit es nicht den Anschein habe, als ob die Bewunderung dieses Werkes zugleich alles er-
schöpfte, was bei Michelangelo im höchsten Sinne bewundert werden kann: die Darstellung
des Großen, Überwältigenden, Furchtbaren, des terribile mit einem Wort. Vielleicht ist die
zarte Schönheit dieses sterbenden Jünglings noch durchdringender als die Gewalt des Moses.
Persönliches Gefühl kann hier allein den Ausschlag geben. Wenn ich ausspreche, daß sie
für mich das erhabenste Stück Bildhauerarbeit ist, das ich kenne, so tue ich das in Erinnerung
an die Meisterwerke der antiken Kunst. Frage ich mich, welches Werk der Skulptur nennst
du zuerst, wenn das beste genannt werden soll, so liegt auf der Stelle die Antwort da: den
sterbenden Jüngling des Michelangelo.
An Unschuld in Auffassung der Natur lassen sich mit dieser Gestalt nur die besten grie- Vergleich mit
chischen Arbeiten vergleichen. Welches Werk eines antiken Meisters aber besitzen oder kennen k'^"'"'
wir, das uns so nahe stände als dieses, das uns tiefer in die Seele griffe wie diese Verklärung des
höchsten und letzten menschlichen Kampfes in einer eben erblühenden Männergestalt? Dieser
äußerste Moment zwischen Leben und Unsterblichkeit, dieser Schauder des Abschieds zugleich
und der Ankunft, dies Zusammensinken kraftvoller, jugendlicher Glieder, die, wie ein
leerer, prachtvoller Panzer, gleichsam von der Seele fortgestoßen werden, die sich

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