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Studien und Mühen erworben wird, denen sich die wenigsten aus-
übenden Künstler unterziehen, noch wenigere mit Erfolg. Allerdings
giebt cs rühmliche Ausnahmen. Uni in Sachen der Kunst ein Ur-
theil zu haben, ist neben den allgemeinen Voraussetzungen wesentlich
nothwendig, daß man viel, recht viel, und mit unbefangenem Auge
gesehen habe. Die wenigsten Künstler befinden sich in diesem Falle.
Ihre Wanderung geht nach Rom, Paris, München, oder nach einer-
anderen Metropole der Kunst; dorthin bringen sie die auf der heimi-
schen Schule empfangene einseitige Richtung mit und legen sie in der
Regel nur ab, nm mit dem neuen Winde zu segeln, der ihnen aus
den Ateliers der Akademie entgegen wehet. In den öffentlichen Kunst-
sälen beachten sie meistens nur die Werke, welche in ihr eigenes spe-
cielles Fach einschlagen, Privatkabinete besuchen sie selten. „Wir
tragen die Anlagen des guten Geschmacks in uns", sagt der englische
Kunstforscher Daniel Webb; „diese, durch Erfahrung und Verglei-
chung vervollkommnet, führen nns zur richtigen Beurtheilnng der
schönen Künste. Für das größte Hinderniß nuferes Fortschreitend
in der Erkenntniß der Kunst halte ich die hohe Meinung, welche
wir von dem Urtheile der ausübenden Künstler hegen, so wie das
verhältnißmäßige Mißtrauen in unser eigenes. Ich habe beinahe
keinen einzigen Künstler gekannt, der nicht ausschließlicher Bewun-
derer einer Schule oder sklavischer Anhänger einer besonderen Manier
gewesen wäre. Selten erheben sie sich zu einer freien, nnpartheiischen
Ansicht des Schönen, wie Leute von wissenschaftlicher Bildung und
Welt. Die bei Ausübung der Kunst ihnen cntgegentretenden Schwie-
rigkeiten machen, daß sie ausschließlich am Mechanismus kleben, wäh-
rend Eigenliebe und Eigendünkel sie denjenigen Geschmack der Zeich-
nung und des Colorits bewundern läßt, welcher ihrer eigenen Manier
am ähnlichsten ist."
Der Kunstliebhaber auf der andern Seite sieht alles und aller-
wärts, er bildet seinen Geschmack und sein Urtheil selbständig ohne
Vorurtheil, er ist nnpartheiisch, es interessirt ihn alles, was sein
gebildeter Geist dem Ideal des Schönen sich nähernd findet, möge
es dem genialen Pinsel eines Rubens oder dem Fleiße eines Gerhard
Studien und Mühen erworben wird, denen sich die wenigsten aus-
übenden Künstler unterziehen, noch wenigere mit Erfolg. Allerdings
giebt cs rühmliche Ausnahmen. Uni in Sachen der Kunst ein Ur-
theil zu haben, ist neben den allgemeinen Voraussetzungen wesentlich
nothwendig, daß man viel, recht viel, und mit unbefangenem Auge
gesehen habe. Die wenigsten Künstler befinden sich in diesem Falle.
Ihre Wanderung geht nach Rom, Paris, München, oder nach einer-
anderen Metropole der Kunst; dorthin bringen sie die auf der heimi-
schen Schule empfangene einseitige Richtung mit und legen sie in der
Regel nur ab, nm mit dem neuen Winde zu segeln, der ihnen aus
den Ateliers der Akademie entgegen wehet. In den öffentlichen Kunst-
sälen beachten sie meistens nur die Werke, welche in ihr eigenes spe-
cielles Fach einschlagen, Privatkabinete besuchen sie selten. „Wir
tragen die Anlagen des guten Geschmacks in uns", sagt der englische
Kunstforscher Daniel Webb; „diese, durch Erfahrung und Verglei-
chung vervollkommnet, führen nns zur richtigen Beurtheilnng der
schönen Künste. Für das größte Hinderniß nuferes Fortschreitend
in der Erkenntniß der Kunst halte ich die hohe Meinung, welche
wir von dem Urtheile der ausübenden Künstler hegen, so wie das
verhältnißmäßige Mißtrauen in unser eigenes. Ich habe beinahe
keinen einzigen Künstler gekannt, der nicht ausschließlicher Bewun-
derer einer Schule oder sklavischer Anhänger einer besonderen Manier
gewesen wäre. Selten erheben sie sich zu einer freien, nnpartheiischen
Ansicht des Schönen, wie Leute von wissenschaftlicher Bildung und
Welt. Die bei Ausübung der Kunst ihnen cntgegentretenden Schwie-
rigkeiten machen, daß sie ausschließlich am Mechanismus kleben, wäh-
rend Eigenliebe und Eigendünkel sie denjenigen Geschmack der Zeich-
nung und des Colorits bewundern läßt, welcher ihrer eigenen Manier
am ähnlichsten ist."
Der Kunstliebhaber auf der andern Seite sieht alles und aller-
wärts, er bildet seinen Geschmack und sein Urtheil selbständig ohne
Vorurtheil, er ist nnpartheiisch, es interessirt ihn alles, was sein
gebildeter Geist dem Ideal des Schönen sich nähernd findet, möge
es dem genialen Pinsel eines Rubens oder dem Fleiße eines Gerhard