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DIE PRAXIS
DES KARIKATURZEICHNENS

EINLEITUNG ZUM AUFGABENTEIL

Gelangt die Kunst durch Nachahmung, durch Bemühung, sich eine allgemeine Sprache
zu machen, durch genaues und tiefes Studium der Gegenstände selbst endlich dahin, daß
sie die Eigenschaften der Dinge und die Art, wie sie bestehen, genau und immer
genauer kennenlernt, daß sie die Reihe der Gestalten übersieht und die verschiedenen
charakteristischen Formen nebeneinanderzustellen und nachzuahmen weiß: dann wird der
Stil der höchste Grad, der Grad, wo sie sich den höchsten menschlichen Bemühungen gleich-
stellen darf."

Goethe hat, als er dieses schrieb, keineswegs an die Karikatur gedacht, ihm schwebten
andere Ideale vor, und wenn ich trotjdem diese Worte zitiere, so deshalb, weil auch für den
Karikaturenzeichner die Anschauungen des großen Dichters so treffend sind, wie sie kaum
treffender sein können. „Die Dinge und Art, wie sie bestehen, genauer und immer genauer
kennenlernen", das ist der Leitsatj, den wir unseren Übungen voraussetzen wollen.

Wir haben es, im Gegensat} zum Landschafts-, Tier- und Figurenmaler, insofern leichter,
als wir nicht in dem Maße von Wind und Wetter abhängig sind wie oft jene angeführten
Kategorien. Der Karikaturist braucht nicht auf die Sonne zu warten, wie der Landschafter,
der eine sonnige Landschaft malen will. Gewiß, wenn der Karikaturist erst einmal weiter
vorgeschritten ist und seine Kunst als Beruf ausübt, dann hat auch er oftmals, wie der
Landschafter, seine Vorbilder unter widrigen Verhältnissen abzukonterfeien.

Aber wir wollen uns hier mit dem Anfangsstudium beschäftigen, wo es uns gleich ist,
ob es Winter oder Sommer, Vormittag oder Nachmittag ist. Es ist wirklich nicht leicht, eine
Anleitung zu geben, wie der Anfänger beginnen soll und auf welche Weise er sein Studium
aufzubauen hat.

Bevor wir an die praktische Arbeit denken, mußt du dir vorher darüber klar sein,
welche Handschrift dir eigen ist, und mußt du wissen, daß in der Art des Striches, den deine
Hand dir gibt, sich deine Kunst als Karikaturist ausspricht. Stilus kommt vom Lateinischen
und heißt überseht der „Griffel", auch Schreibart.

Und was ist Stil?

Für uns die Art, sich auszudrücken, d. h. in unserem Falle, daß du deine dir eigene
Schreibweise auch im Karikaturenzeichnen so zur formalen und geistigen Anschauung
bringst, daß deine Persönlichkeit auch im kleinsten Strich sich widerspiegelt. Wer
aber anfängt, diesen Stil, der ihm eigen ist, einseilig, ich möchte sagen eigensinnig aus-
zutreten, wodurch seine Arbeit unbedingt das Geistige verlieren muß, verfällt dem
M anierismus, auf deutsch gesagt: er wird langweilig. Dem Manierismus verfallen am
allermeisten diejenigen, welche über jeden lumpigen Strich, den sie machen, selbst be-
geistert sind; denn das ist immer ein Unglück, wenn ein Künstler vor seiner eigenen Arbeit
dauernd in Verzückung gerät. Gewöhne dir dieses Laster nicht an, es ist viel schlimmer als
Zigarettenrauchen oder Kokainschnupfen.

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