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Kapitel IX: Zur theologischen Interpretation

Die Typengeschichte der Kruzifixdarstellung, die hier erarbeitet
worden ist, verlangt abschließend nach der Beantwortung der Frage,
welche Beweggründe solch tiefgreifende Wandlungen im Bild des ge-
kreuzigten Erlösers hervorgerufen haben. Liegen dieser ikonogra-
phischen Typenentwicklung Wandlungen von Theologie und Frömmig-
keit zu Grunde? Diese Frage zerfällt in mehrere Problemkomplexe.
Zuerst der altchristlich-frühbyzantinische Bereich. Dort wird, wie
wir gesehen haben, der Herr am Kreuz lebend mit weitgeöffneten Au-
gen, aufrecht schwebend oder stehend, mit horizontal ausgestreck -
ten Armen dargestellt. Wie ist das mit dem Blutstrom aus der Sei-
tenwunde zu vereinbaren, der den Tod Jesu voraussetzt? Kurz nach
dem Bilderstreit erfolgt dann das Aufkommen des Kruzifixus mit ge-
schlossenen Augen. Welche Ursache hat diese Änderung? Komplizier-
ter liegen die Verhältnisse im Abendland. Dort gibt es seit ca.
830-850 Darstellungen des tot am Kreuz zusammengesunkenen Jesus.
Sie sind jedoch nicht vorherrschend. Das Bild des lebenden, trium-
phierenden Gekreuzigten ist weiterhin vorhanden, teilweise sogar
verbreiteter als die neue Ikonographie des toten Kruzifixus, Zwi-
schen diesen beiden Typen gibt es nun alle Möglichkeiten der Ver-
mischung und Variierung. Den byzantinischen Typ des toten Gekreu-
zigten hat man nachdrücklich abgelehnt. Wie ist dies vielfältige
Bild zu erklären?

Es dürfte klar sein, daß diese Fragen nur mit Hilfe der zeitge-
nössischen Theologie und Frömmigkeit zu klären sind. Eine autono-
me, von den Wandlungen christlichen Denkens lösgelöste Entwick-
lung gerade der Darstellung des Gekreuzigten ist unwahrscheinlich,
ja ausgeschlossen. An diesem Bilde als der Verbildlic-hung des zen-
tralen Ereignisses der Heilsgeschichte hat das Ghristentum höch-
stes Interesse. Bei dem Prinzip der Tradierung von Bildtypen ist
es unmöglich, daß Umbildungen und Neuschöpfungen von Typen ent-
stehen, wenn nicht gleichzeitig eine Änderung oder Akzentver-
schiebung der zugrundeliegenden Lehrmeinungen oder Frömmigkeits-
anschauungen erfolgte.

Für die beiden ersten Problemkomplexe können wir uns auf eine
 
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