DOI Heft:
Nr. 22
DOI Seite / Zitierlink: https://doi.org/10.11588/diglit.42003#0367
Nr. 22.
HEIDELBERGER
1844.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Ersteigung des Gross- Venedigers und des Jungfrauhornes,
^Beschluss.)
Die Höhe des letzten Gipfels mochte etwa iUOO Fuss betra-
gen. Des festen, glatten Eises wegen mussten die Führer tiefe
Stufen einhauen; man rückte nur äusserst langsam vorwärts, stel-
lenweise konnten kaum fünfzehn Schritte in der Viertelstunde ge-
macht werden. Dabei wurde es so empfindlich kalt, dass das Er-
frieren der Füsse zu fürchten war. Der letzte Kamm hat die Ge-
stalt eines, von beiden Seiten senkrecht abgesebnittenen, Kegels,
welcher nach Osten die Firnfelder, gegen Westen hin die, zum
Rottthal hinabsteigenden, Schneegehänge aussendet. Man bewegte
sich stets auf der Schneide des Kammes, da hier das Eis weicher
war. Noch immer umhüllten Nebel den Gipfel; nur nach Osten
hin, nach dem Eiger, Mönch und nach den hohen Spitzen hin, wel-
che beide Äargietscher einscbliessen, war die Aussicht frei. Plötz-
lich zerriss der Wolkenschleier, der den Gipfel barg, und enthüllte
die ganze Schönheit der mächtigen Jungfrau - Formen. Nach kur-
zem Ansteigen wendete man sich einer Stelle zu, wo nackter Fels
am Tag erscheint und die schiefe Fläche vom Kegel, dessen Breite
hier noch mehrere hundert Fuss beträgt, wurde überschritten. Auf
dem Felsen angelangt, sahen die Reisenden, in ganz geringer Ent-
fernung, die erhabenste Kuppe. Von dreizehn Männern, die aus
den Möriler Sennhütten ausgerückt waren, erreichten acht — da-
runter Agassiz, Forbes, du Chatelier und Desor — den
Gipfelpunkt. Hier sahen sie zum ersten Mal die Schweizerebene
vor sich; sie waren auf dem westlichen Rand des Kegels, über
dem Kamme, welcher das Rott- und Lauterbruunenthal vom Grin-
delwaldthal scheidet. Die Fläche des Gipfels ist ein kleines Drei-
eck von etwa zwei Fuss Länge und anderthalb Fuss Breite, dessen
Basis gegen die Ebene gekehrt ist, während seine Spitze sich in
den schmalen Grath verlängert, welchen man hinabklimmt. Eiue
über alle Beschreibung schöne Aussicht und vom eigeuthümiiohsten
Reize bietet sich dar. Vor den Augen liegt die grüne Ebene ent-
XX X'VII. Jahrg. 3. Doppelheft 22
HEIDELBERGER
1844.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Ersteigung des Gross- Venedigers und des Jungfrauhornes,
^Beschluss.)
Die Höhe des letzten Gipfels mochte etwa iUOO Fuss betra-
gen. Des festen, glatten Eises wegen mussten die Führer tiefe
Stufen einhauen; man rückte nur äusserst langsam vorwärts, stel-
lenweise konnten kaum fünfzehn Schritte in der Viertelstunde ge-
macht werden. Dabei wurde es so empfindlich kalt, dass das Er-
frieren der Füsse zu fürchten war. Der letzte Kamm hat die Ge-
stalt eines, von beiden Seiten senkrecht abgesebnittenen, Kegels,
welcher nach Osten die Firnfelder, gegen Westen hin die, zum
Rottthal hinabsteigenden, Schneegehänge aussendet. Man bewegte
sich stets auf der Schneide des Kammes, da hier das Eis weicher
war. Noch immer umhüllten Nebel den Gipfel; nur nach Osten
hin, nach dem Eiger, Mönch und nach den hohen Spitzen hin, wel-
che beide Äargietscher einscbliessen, war die Aussicht frei. Plötz-
lich zerriss der Wolkenschleier, der den Gipfel barg, und enthüllte
die ganze Schönheit der mächtigen Jungfrau - Formen. Nach kur-
zem Ansteigen wendete man sich einer Stelle zu, wo nackter Fels
am Tag erscheint und die schiefe Fläche vom Kegel, dessen Breite
hier noch mehrere hundert Fuss beträgt, wurde überschritten. Auf
dem Felsen angelangt, sahen die Reisenden, in ganz geringer Ent-
fernung, die erhabenste Kuppe. Von dreizehn Männern, die aus
den Möriler Sennhütten ausgerückt waren, erreichten acht — da-
runter Agassiz, Forbes, du Chatelier und Desor — den
Gipfelpunkt. Hier sahen sie zum ersten Mal die Schweizerebene
vor sich; sie waren auf dem westlichen Rand des Kegels, über
dem Kamme, welcher das Rott- und Lauterbruunenthal vom Grin-
delwaldthal scheidet. Die Fläche des Gipfels ist ein kleines Drei-
eck von etwa zwei Fuss Länge und anderthalb Fuss Breite, dessen
Basis gegen die Ebene gekehrt ist, während seine Spitze sich in
den schmalen Grath verlängert, welchen man hinabklimmt. Eiue
über alle Beschreibung schöne Aussicht und vom eigeuthümiiohsten
Reize bietet sich dar. Vor den Augen liegt die grüne Ebene ent-
XX X'VII. Jahrg. 3. Doppelheft 22