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ERSTES KAPITEL
DIE GRIECHISCHE TRAGÖDIE IN DEUTSCHLAND
BIS OPITZ
1. Theorie der Tragödie
Das Eindringen der antiken Literatur in Deutschland ist im
16. Jahrhundert in Art und Grenzen bestimmt durch die Refor-
mation. Das Bündnis mit der Reformation zeichnet den' deut-
schen Humanismus so wie den italienischen das mit der Renais-
sance. Umgekehrt erfährt Deutschland in diesem Jahrhundert
fast so wenig eine Renaissance wie Italien eine Reformation.
Demzufolge ist nur im Süden die Rezeption der antiken Dichter
ästhetisch, in Deutschland bleibt sie moralisch. Ihr sittlicher Ge-
halt ist der einzige Ausweis, mit dem sie die enge Zensur der
Reformation passieren. Daß es dabei immer erneuter Rechtferti-
gungen bedarf, verrät ein uneingestandenes Gefühl für die eigent-
liche Unangemessenheit dieser Auffassung. So erhält die deutsche
Dichtertheorie einen von der der europäischen Renaissance un-
terschiedenen eigentümlichen Charakter. Konstituiert sich diese
zu abgeschlossenen Poetiken: Lehrbüchern der dichterischen For-
men und Mittel, Anleitungen zu eigener poetischer Produktion, so
beschränkt sich jene auf die Apologie, die unermüdlich Nützlich-
keit und sittlichen Gehalt der behandelten Autoren untersucht
und anpreist. Erst bei Opitz, bei dem die europäische Renais-
sance — als Stoffwelt, nicht als Stilkategorie verstanden in die
deutsche Dichtung eintritt, ist zum ersten Male die sittliche Apo-
logie aus dem Geiste der deutschen Reformation mit der poeti-
schen Anweisung im Sinne der Renaissance vereinigt.
Die bedenkliche Folge dieser Situation ist, daß die griechische
Dichtung ihren Eintritt in den deutschen Geistesbezirk erkaufen
muß durch völlige Preisgabe ihres dichterischen Charakters. Nur
selten und wie versehentlich taucht in Vorreden und theoretischen
Schriften einmal eine ästhetische oder formale Beobachtung auf,
Gesinnung und Lehre nehmen allen Anteil in Anspruch. Die in
die Dichtung hineingearbeitete Lehre findet man dabei in doppel-
ter Gestalt: uneigentlich und im Bilde in den „fabulae“, den Hi-
storien, eigentlich und geradezu in den „sententiae“ den Sprüchen.
Dabei gelten bald die Sprüche als die Quintessenz der Fabeln,
bald die Fabeln als die Illustration der Sprüche. Man liebte es,
die Sentenzen am Ende des Bandes in einem alphabetischen Ver-
zeichnis zusammenzustellen und sie im Text durch Fettdruck oder
 
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