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Historisch-Philosophischer Verein <Heidelberg> [Hrsg.]
Neue Heidelberger Jahrbücher — N.F..1926

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Alewyn, Richard: Vorbarocker Klassizismus und griechische Tragödie: Analyse der "Antigone"-Übersetzung des Martin Opitz
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Drittes Kapitel: Vergleichende Analyse der Opitzschen „Antigone“ - Übersetzung
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https://doi.org/10.11588/diglit.47621#0027
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21

durchaus genau und wortgetreu ist, hat unsere Analyse aus-
zugehen. Sie bietet eine Gewähr dafür, daß die trotzdem ein-
tretende Verwandlung nicht subjektiver Willkür entspringt oder
äußerlicher Regeldisziplin sondern dem unentrinnbaren Zwang
des inneren Stilgesetzes.
Die allgemeinen theoretischen Voraussetzungen für die Auf-
fassung der griechischen Tragödie, die Opitz an wissenschaftlicher
Tradition und ethischer Gesinnung dem Zeitbewußtsein entnahm,
sind oben auseinandergesetzt worden. Dem moralistischen Cha-
rakter der Tragödientheorie entspricht in der Uebersetzungs-
praxis eine Tendenz der Umbildung, die wir geistig als ratio-
nalistisch, formal als klassizistisch bezeichnen müssen. Wie dies
zu verstehen und zu belegen sei, wird der Verlauf unserer Unter-
suchung erhellen.
Die griechische Tragödie, geboren an der Scheide zweier Zeit-
alter, zweier Kulturwelten ist ein einmaliges und seither un-
wiederholtes Phänomen. Sie bedeutet die Bannung und Ueber-
windung der dionysischen Bedrohung durch den attischen Geist.
Ihre historischen Ursprünge sind gleich dunkel wie ihr religiöser
Grund. Sie wurzelt im Dionysosdienst, im vermummten Umzug
des Gottes mit seinem halb tierischen Geleite. Wo sie beginnt
literarisch zu werden — und das erst ist natürlich der Anfang un-
serer Ueberlieferung -, ist die Kultform schon in die Kunstform
gebannt. Aber durch die gewaltsame Stilisierung ihrer Gewan-
dung bebt noch die erlittene Erschütterung hindurch. Die uner-
hörte Rohheit der Fabel, die maßlose Ausschweifung der Klage,
der rhythmische Aufruhr der Chöre, all das reicht unmittelbar
zurück ins Primitive, Barbarische, Asiatische.
Unter Opitzens Hand bleibt von der Orgiastik solcher Ur-
sprünge, von der Dunkelheit dieser Gründe, überhaupt von jed-
weder Gefahr und Zerstörung kein Ton mehr und keine Spur.
Christentum und Stoizismus hatten die Tragödie aufgehoben.
Durch jenes war die große Welf, der Makrokosmos in einer festen
und ewigen Ordnung verankert worden, durch diesen das Indi-
viduum, der Mikrokosmos, der Unerschütterlichkeit seiner See-
lenmitte versichert worden. Sie ermöglichten es, alles Leid nur
als vorläufig und peripher anzusehen, als belanglos gegenüber der
absoluten Unbewegtheit eines Urgrundes, dessen man als gewisser
Zukunft oder als gegenwärtigen Besitzes versich£rt war. Alle
Tragödien des christlichen Zeitalters sind „Märfyrerdramen“.
 
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