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Brodersen, Kai; Kiesel, Helmuth [Hrsg.]; Dölling, Dieter [Hrsg.]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Hrsg.]
Heidelberger Jahrbücher: Rausch — Berlin, Heidelberg [u.a.], 43.1999

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https://doi.org/10.11588/diglit.4065#0272
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270 Fritz Peter Knapp

fach ein (ganzes) Huhn. Das muß ihr dann äußerst wohltun im Kopf und im Magen.
Sie erwerben einen feisten Hals, so daß sie wie die Schweine schnaufen. Damit will
die Frau dann (in der Kirche) heilig sein.

So ist denn der literarische Topos vom saufenden und fressenden Wiener
keine erst der neuzeitlichen Realität entsprossene dichterische Erfindung. Wie
stark er im Mittelalter die Realität überzeichnet hat, wissen wir natürlich
nicht. Fraglich auch, was seine Darstellung eigentlich in einem Sammelband
über den Rausch zu suchen habe. Der Rausch, gar der in höhere Dimensionen
entführende Rausch der Begeisterung, ist wohl kaum je das Ziel dieser Phäa-
ken vom Donaustrand gewesen. Konrad von Haslau, ein fahrender Berufs-
dichter desselben Landes,25 gibt gegen Ende des 13. Jahrhunderts in seinem
gereimten Erziehungsbüchlein Der Jüngling26 zehn Gründe für den - von ihm
natürlich getadelten - Aufenthalt im lithüs, im Weinhaus, an. Man saufe an-
geblich in der Öffentlichkeit, um daheim niemand bewirten zu müssen, um bei
den Leuten als gesellig und freigebig zu gelten, um mit anderen Betrunkenen
Blödsinn reden zu können, aus Gewohnheit und aus Durst, zum Zeitvertreib,
aus gesundheitlichen Gründen, schließlich aus Schmerz und Kummer - alles
sehr banale, dem Niveau dieser Sittenlehre für Krautjunker entsprechende
Gründe. Aber sie haben doch, wenigstens die meisten von ihnen, mit
„höheren" Zielen eines gemeinsam: Sie entspringen dem Wunsch, der Realität
zu entfliehen, weil diese als unerträglich oder unbefriedigend empfunden
wird. Zumindest hierin treffen sie sich, der verzückte Visionär, der vom furor
poeticus ergriffene Dichter und der vom Stuhl fallende und lallende
„schlichte" Säufer. Gott sei seiner Seele gnädig!

Literatur

Adam W (1979) Die ,wandelunge' (Beihefte zum Euphorion 15). Winter Heidelberg

Cairns F (1980) The Archpoet's Confession: Sources, Interpretation and Historical Context. In:

Mittellateinisches Jahrbuch 15, S 87-103
Carmina Burana (1970) Bd 13. Hrsg.von Bernhard Bischoff. Carl Winter Heidelberg
Carmina Burana (1987) Texte und Übersetzung. Hrsg.von Konrad Vollmann (Bibliothek des

Mittelalters 13). Deutscher Klassiker-Verlag Frankfurt/Main
Der Stricker: Die Kleindichtung (1975) Bd III, 1. Hrsg. von Moelleken WW, Agler-Beck G,

Lewis RE (GAG 107). Kümmerle Göppingen
Die Regel des Hl. Benedikt. Hrsg. und übers, von Basilius Steidle. Beuroner Kunstverlag Beu-

ron
Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache(1989) Begründet von Friedrich Kluge, be-
arbeitet von Elmar Seebold. 22. Aufl. de Gruyter Berlin, New York
Glier I (1995) Steinmar. In: Verfasserlexikon IX (1995) (s.u.), Sp 281-284
Grunewald E (1976) Die Zecher- und Schlemmerliteratur des deutschen Spätmittelalters. Diss.
Köln

25 Vgl. Rosenfeld, Konrad von Haslau, Sp. 194-198.
Ausgabe von Stauber.
 
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