Kapitel 5
Der Mensch als Konstrukt und als Projekt - zu
den Anfängen anthropologischer Reflexion
im Christentum des 2. Jahrhunderts
Winrich Lohr
Es scheint, dass die Fortschritte in Biologie und Medizin einen tief greifenden Wan-
del unseres Menschenbildes erfordern. Zwar ist die Herausforderung, den Menschen
als ein Lebewesen unter anderen Lebewesen zu verstehen, spätestens seit Charles
Darwin Gegenstand intensiver Debatten und damit keineswegs eine schockieren-
de Neuheit. Doch wenn nicht alles täuscht, haben die diesbezüglichen Debatten
seit ungefähr zwanzig Jahren eine neue Qualität erreicht: Zum einen verfolgen die
mit dem Menschen befassten Naturwissenschaften mehr und mehr interdiszipli-
näre Forschungsprogramme, die einen stetigen Fluss faszinierender Erkenntnisse
generieren. Zum anderen und vor allem beginnen diese Forschungsergebnisse die
öffentliche Diskussion und auch das Bewusstsein der gesellschaftlichen, kulturellen
und intellektuellen Eliten auf eine neue, intensivierte Weise zu prägen. Konkurrie-
rende anthropologische Theorien und Konzepte - sei es ethnologischer, soziologi-
scher, philosophischer, historischer oder auch theologischer Provenienz - geraten
in dieser Diskussionssituation mehr und mehr in die Defensive. Über Spontaneität,
Willensfreiheit, Kreativität und Sprachvermögen des Menschen wird man ohne Be-
zug auf die Hirnforschung nicht mehr ernsthaft reden können. Die Reflexion über
den Menschen als soziales Wesen wird die Ergebnisse der Soziobiologie beachten
müssen, das gleiche gilt für ökonomische Theorien, die den Menschen als rational
entscheidenden, in jeder Situation den eigenen Vorteil maximierenden Akteur be-
greifen. Die Liste ließe sich leicht verlängern.
Der sich abzeichnende tief greifende, die öffentliche Debatte prägende Wandel
im Menschenbild ist in seinen Konsequenzen noch unabsehbar. Er erfordert auf
jeden Fall eine breite, interdisziplinäre Diskussion auch und gerade innerhalb der
Institution, die in unserer Gesellschaft ein privilegierter Ort solcher Debatten ist
oder sein sollte, der Universität. Für die Geistes- und Kulturwissenschaften kommt
viel darauf an, nicht in bloße Abwehrreflexe zu verfallen: So dürfte eine undif-
ferenzierte Rede von dem naturwissenschaftlichen (biologischen) Menschenbild,
W. Lohr (Kl)
Theologische Fakultät Universität Heidelberg, Kisselgasse 1, 69117 Heidelberg, Deutschland
E-Mail: winrich.loehr@wts.uni-heidelberg.de
M. Hilgert, M. Wink (Hrsg.), Menschen-Bilder, 67
DOI 10.1007/978-3-642-16361-6_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
Der Mensch als Konstrukt und als Projekt - zu
den Anfängen anthropologischer Reflexion
im Christentum des 2. Jahrhunderts
Winrich Lohr
Es scheint, dass die Fortschritte in Biologie und Medizin einen tief greifenden Wan-
del unseres Menschenbildes erfordern. Zwar ist die Herausforderung, den Menschen
als ein Lebewesen unter anderen Lebewesen zu verstehen, spätestens seit Charles
Darwin Gegenstand intensiver Debatten und damit keineswegs eine schockieren-
de Neuheit. Doch wenn nicht alles täuscht, haben die diesbezüglichen Debatten
seit ungefähr zwanzig Jahren eine neue Qualität erreicht: Zum einen verfolgen die
mit dem Menschen befassten Naturwissenschaften mehr und mehr interdiszipli-
näre Forschungsprogramme, die einen stetigen Fluss faszinierender Erkenntnisse
generieren. Zum anderen und vor allem beginnen diese Forschungsergebnisse die
öffentliche Diskussion und auch das Bewusstsein der gesellschaftlichen, kulturellen
und intellektuellen Eliten auf eine neue, intensivierte Weise zu prägen. Konkurrie-
rende anthropologische Theorien und Konzepte - sei es ethnologischer, soziologi-
scher, philosophischer, historischer oder auch theologischer Provenienz - geraten
in dieser Diskussionssituation mehr und mehr in die Defensive. Über Spontaneität,
Willensfreiheit, Kreativität und Sprachvermögen des Menschen wird man ohne Be-
zug auf die Hirnforschung nicht mehr ernsthaft reden können. Die Reflexion über
den Menschen als soziales Wesen wird die Ergebnisse der Soziobiologie beachten
müssen, das gleiche gilt für ökonomische Theorien, die den Menschen als rational
entscheidenden, in jeder Situation den eigenen Vorteil maximierenden Akteur be-
greifen. Die Liste ließe sich leicht verlängern.
Der sich abzeichnende tief greifende, die öffentliche Debatte prägende Wandel
im Menschenbild ist in seinen Konsequenzen noch unabsehbar. Er erfordert auf
jeden Fall eine breite, interdisziplinäre Diskussion auch und gerade innerhalb der
Institution, die in unserer Gesellschaft ein privilegierter Ort solcher Debatten ist
oder sein sollte, der Universität. Für die Geistes- und Kulturwissenschaften kommt
viel darauf an, nicht in bloße Abwehrreflexe zu verfallen: So dürfte eine undif-
ferenzierte Rede von dem naturwissenschaftlichen (biologischen) Menschenbild,
W. Lohr (Kl)
Theologische Fakultät Universität Heidelberg, Kisselgasse 1, 69117 Heidelberg, Deutschland
E-Mail: winrich.loehr@wts.uni-heidelberg.de
M. Hilgert, M. Wink (Hrsg.), Menschen-Bilder, 67
DOI 10.1007/978-3-642-16361-6_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012