5 Der Mensch als Konstrukt und als Projekt
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Die Beobachtungen von Wolff zur antiken philosophischen Anthropologie sind
anschlussfähig an meine Überlegungen zu den zwei Perspektiven auf den Men-
schen in christlich-gnostischen Mythen. Beim Vergleich fällt auf, dass in den christ-
lich-gnostischen Mythen durch die narrative Form und die mit ihr gegebenen Re-
flexionsmöglichkeiten die anthropologische Positionen und Perspektiven der philo-
sophischen Tradition in neuer, ungewöhnlicher und intensiver Form reflektiert und
kombiniert werden.
So wird z. B. in den Mythen des Saturninus und der Valentinianer die ethische
Perspektive (der Mensch als Projekt) insofern verschärft und zugespitzt, als die drei
von Wolff (1997) herausgestellten ,Faunen' der Götter, Tiere und Menschen durch
die ,Faunen' der Hyliker, Psychiker und Pneumatiker ersetzt werden. Damit wird
zum einen die in der antiken philosophischen Anthropologie angelegte, auf Seelen-
teile/Seelensubstanzen konzentrierte Psychophysik zu einer Menschenklassenlehre
mit ethischer Perspektive erweitert. Zum anderen wird verdeutlicht, dass sowohl
das Herabsinken auf ein bestialisches Niveau als auch der Aufstieg zum göttlichen
Rang menschliche Möglichkeiten sind?1 Schließlich wird hier auch die entschieden
anthropozentrische Tendenz deutlich, welche die valentinianische Anthropologie
mit anderen christlichen Anthropologien der Antike teilt.52
Weiterhin sei notiert, dass in den christlich-gnostischen Mythen bestimmte phi-
losophische Metaphern, Schulformeln und Begriffe neu ausprobiert werden, in-
dem man sie in einen narrativen, durch biblische Traditionen bestimmten Rahmen
stellt. Der Lebensfunke im Mythos des Saturninus ist ebenso transzendent wie der
aristotelische nous: Aber durch seine Herabkunft in das durch die Engelmächte
geschaffene Gebilde erscheint seine Transzendenz dramatisch akzentuiert. Oder:
Während im platonischen Timaios 42D die Konstruktion der niederen Seelenteile
und der Körper den niederen Göttern zugewiesen wird, redet der Mythos des Sa-
turninus verschärfend von einem gescheiterten Versuch der Engel, den Menschen
nach dem Bild der obersten Macht zu konstruieren.53 Oder: Im bereits erwähnten
Apokryphem des Johannes, das eine ähnliche Anthropologie wie der Lehrmythos
des Saturninus vertritt, wird schließlich der pneumatisch-psychische Urmensch
(Adam) von den eifersüchtigen Archonten in einen Körper eingeschlossen, der als
,Fessel' und ,Grab' bezeichnet wird. Diese platonischen Metaphern (Phaedo 62B;
67D; 1 HB; Cratylus 400 C)54 werden im christlich-gnostischen Mythos erzählend
ausgelegt - die platonische Anthropologie wird damit auch neu durchdacht. Um auf
die Terminologie der Einteilung antiker Philosophie zu rekurrieren: Die christlich-
51 Die Beschreibung der Position des Menschen kann in antiken christlichen Anthropologie ganz
verschieden erfolgen: die Engellehre hat u.a. in dieser Hinsicht eine wichtige systematische Funk-
tion.
52 Dieser Anthropozentrismus ist einer der Hauptkritikpunkte Plotins an den ihm bekannten -
christlichen? - Gnostikern, vgl. Plotin, En. 2,9,9.
53 Nota bene: Die oberste Macht im Mythos des Saturninus ist nicht so transzendent, dass sie
nicht den Engeln erscheinen oder sie sich des Menschen erbarmen könnte. Christlich-gnostische
Mythen zeichnen das Bild einer mit dem Menschen leidenschaftlich beschäftigten Transzendenz.
54 Courcelle 1976; Luttikhuizen 2000, 149-151.
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Die Beobachtungen von Wolff zur antiken philosophischen Anthropologie sind
anschlussfähig an meine Überlegungen zu den zwei Perspektiven auf den Men-
schen in christlich-gnostischen Mythen. Beim Vergleich fällt auf, dass in den christ-
lich-gnostischen Mythen durch die narrative Form und die mit ihr gegebenen Re-
flexionsmöglichkeiten die anthropologische Positionen und Perspektiven der philo-
sophischen Tradition in neuer, ungewöhnlicher und intensiver Form reflektiert und
kombiniert werden.
So wird z. B. in den Mythen des Saturninus und der Valentinianer die ethische
Perspektive (der Mensch als Projekt) insofern verschärft und zugespitzt, als die drei
von Wolff (1997) herausgestellten ,Faunen' der Götter, Tiere und Menschen durch
die ,Faunen' der Hyliker, Psychiker und Pneumatiker ersetzt werden. Damit wird
zum einen die in der antiken philosophischen Anthropologie angelegte, auf Seelen-
teile/Seelensubstanzen konzentrierte Psychophysik zu einer Menschenklassenlehre
mit ethischer Perspektive erweitert. Zum anderen wird verdeutlicht, dass sowohl
das Herabsinken auf ein bestialisches Niveau als auch der Aufstieg zum göttlichen
Rang menschliche Möglichkeiten sind?1 Schließlich wird hier auch die entschieden
anthropozentrische Tendenz deutlich, welche die valentinianische Anthropologie
mit anderen christlichen Anthropologien der Antike teilt.52
Weiterhin sei notiert, dass in den christlich-gnostischen Mythen bestimmte phi-
losophische Metaphern, Schulformeln und Begriffe neu ausprobiert werden, in-
dem man sie in einen narrativen, durch biblische Traditionen bestimmten Rahmen
stellt. Der Lebensfunke im Mythos des Saturninus ist ebenso transzendent wie der
aristotelische nous: Aber durch seine Herabkunft in das durch die Engelmächte
geschaffene Gebilde erscheint seine Transzendenz dramatisch akzentuiert. Oder:
Während im platonischen Timaios 42D die Konstruktion der niederen Seelenteile
und der Körper den niederen Göttern zugewiesen wird, redet der Mythos des Sa-
turninus verschärfend von einem gescheiterten Versuch der Engel, den Menschen
nach dem Bild der obersten Macht zu konstruieren.53 Oder: Im bereits erwähnten
Apokryphem des Johannes, das eine ähnliche Anthropologie wie der Lehrmythos
des Saturninus vertritt, wird schließlich der pneumatisch-psychische Urmensch
(Adam) von den eifersüchtigen Archonten in einen Körper eingeschlossen, der als
,Fessel' und ,Grab' bezeichnet wird. Diese platonischen Metaphern (Phaedo 62B;
67D; 1 HB; Cratylus 400 C)54 werden im christlich-gnostischen Mythos erzählend
ausgelegt - die platonische Anthropologie wird damit auch neu durchdacht. Um auf
die Terminologie der Einteilung antiker Philosophie zu rekurrieren: Die christlich-
51 Die Beschreibung der Position des Menschen kann in antiken christlichen Anthropologie ganz
verschieden erfolgen: die Engellehre hat u.a. in dieser Hinsicht eine wichtige systematische Funk-
tion.
52 Dieser Anthropozentrismus ist einer der Hauptkritikpunkte Plotins an den ihm bekannten -
christlichen? - Gnostikern, vgl. Plotin, En. 2,9,9.
53 Nota bene: Die oberste Macht im Mythos des Saturninus ist nicht so transzendent, dass sie
nicht den Engeln erscheinen oder sie sich des Menschen erbarmen könnte. Christlich-gnostische
Mythen zeichnen das Bild einer mit dem Menschen leidenschaftlich beschäftigten Transzendenz.
54 Courcelle 1976; Luttikhuizen 2000, 149-151.