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Hilgert, Markus [Hrsg.]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Hrsg.]
Heidelberger Jahrbücher: Menschen-Bilder: Darstellungen des Humanen in der Wissenschaft — Berlin, Heidelberg, 54.2010(2012)

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Borchmeyer, Dieter: "Was man in der Jugend wünscht, hat man im Alter die Fülle": Das Alter als Erfüllung, Chance und Herausforderung
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https://doi.org/10.11588/diglit.16708#0223

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D. Borchmeyer

Trotz Benns Sarkasmus: unsere morbid gewordenen Körper halten länger und
halten unsere Gehirne länger bei Laune. Man sieht es an den Senioren, welche die
Hörsäle der Universitäten zumal in den Geisteswissenschaften füllen. Als ich 1988
an die Universität Heidelberg berufen wurde, sagte ein Kollege in einer Geburts-
tagsrede, es sei ein merkwürdiges Gefühl, immer älter zu werden, aber als Uni-
versitätslehrer mit Menschen zu tun zu haben, die immer gleich jung blieben. Das
hat sich sehr geändert, seit die Senioren die eigentlichen Studenten in den Lehrver-
anstaltungen nicht selten zu einer Minderheit werden lassen. Das gilt zumal für das
Studium generale, die Veranstaltungen außerhalb des Pflichtprogramms, für welche
die Studenten, vom Düsentrieb der verzweckten und verzwängten Studienmaschi-
nerie ä la Pasta Bolognese gehetzt, keine Zeit mehr haben. Jene werden nun weit-
gehend von Senioren besucht, die nach den Zwängen eines jahrzehntelangen Be-
rufslebens die akademische Freiheit ersehnen, eine Bildung, welche ihnen vielfach
verwehrt war, und die also nun endlich das tun und treiben können, was sie immer
am liebsten getan hätten. Hier also gilt wirklich, dass man im Alter ,die Fülle' hat,
was in der Jugend nur Wunsch war.

Wie mancher teilte gern die Illusion des Songs von Udo Jürgens: „Mit 66 Jahren,
da fängt das Leben an." Die Last des Berufs mit seinen Zwängen und Zwecken fällt
ab, und das Leben fängt an, sich nach eigenen, selbstgesetzten Zielen gestalten zu
lassen - wenn nur der Körper mithält und die Medizin sein Schutzengel auf allen
Wegen und Stegen ist. In seinen Aphorismen zur Lebensweisheit bemerkt Schopen-
hauer über das Alter, diesem sei „eine gewisse Heiterkeit eigen [...]: und der Grund
hievon ist kein anderer, als dass die Jugend noch unter der Herrschaft, ja dem Fron-
dienst jenes Dämons steht, der ihr nicht leicht eine freie Stunde gönnt und zugleich
der unmittelbare oder mittelbare Urheber fast alles und jedes Unheils ist, das den
Menschen trifft oder bedroht: das Alter aber hat die Heiterkeit dessen, der eine lange
getragene Fessel los ist und sich nun frei bewegt".

In einem der wunderbarsten Romane der deutschen Literatur, dem Nachsommer
von Adalbert Stifter, einem Ruhestandsroman im eigentlichen Sinne, hat sich der
Staatsmann Freiherr von Risach nach seiner Pensionierung im Alpenvorland die
utopische Idylle eines Rosenhauses errichtet, in dem er nun dem nachgeht, was ihm
eine von Notdurft geprägte Jugend und eine seinem Wesen fremde Berufstätigkeit
sein Leben lang verwehrt hat: ein Wissenschaft, Kunst und Kultur nach benedikti-
nischem Muster gewidmetes, selbstgesetzliches Dasein. Die dominierende Hand-
lungszeit des Romans ist der Nachsommer, der verlängerte Sommer, ohne dessen
Hitze, noch vor der Kühle des Herbstes, in dem die Natur noch einmal auflebt,
bevor sie sich ,zum Ersterben rüstet' und die Zugvögel in südliche Länder ziehen.
Da haben die Vögel, so heißt es an einer Stelle des Romans, befreit vom Zwang der
Fortpflanzung, „eine freiere Zeit. Da haben sie gleichsam einen Nachsommer, und
spielen eine Weile, ehe sie fort gehen." Eben das ist auch der wesentliche Lebens-
inhalt Risachs.

Einen solchen Nachsommer zweckfreier Bildung suchen die Hörerinnen und
Hörer, die ihr Berufsleben hinter sich haben, vielfach an der Universität - in para-
doxem Gegensatz zu deren heutigem Wesen, ist sie doch weitab von ihrer einstigen
 
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