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A. Kruse
Erweiterungen der Wissenssysteme (vor allem in Bezug auf fundamentale Fragen
des Lebens), die Neubewertung der eigenen Biografie im Lebensrückblick, neue
Formen mitverantwortlichen Lebens gegenüber nachfolgenden Generationen, die
Weiterentwicklung der Fähigkeit zum Schließen von Kompromissen zwischen Er-
reichtem und Nicht-Erreichtem, die Kompensation körperlicher Verluste sowie das
zunehmende Vermögen, in den Grenzsituationen des Lebens eine tragfähige Le-
bens- und Zukunftsperspektive auszubilden. Es handelt sich dabei um Entwick-
lungsmöglichkeiten, das heißt, um Potenziale, deren Verwirklichung als individu-
elle Entwicklungsaufgabe verstanden werden kann - wobei die Verwirklichung
dieser Potenziale durch eine Haltung in unserer Gesellschaft und Kultur gefördert
wird, die von einem grundlegenden Interesse an Fragen des Alters bestimmt und
offen für mögliche Gewinne ist, die das Alter des Menschen für unser Gemeinwohl
bedeutet. Ein Menschenbild hingegen, dass sich primär oder sogar ausschließlich
auf die körperliche Dimension der Person und damit auf das körperliche Altern
konzentriert, geht an diesen potenziellen seelisch-geistigen Kräften vorbei - und
erschwert damit zum einen individuelle Entwicklungsprozesse (kollektive Alters-
bilder haben Einfluss auf das individuelle Selbst), zum anderen aber den differen-
zierten gesellschaftlichen Diskurs zum Lhema Alter (ausführlich dazu die Beiträge
in Kruse 2010a).
Mit dem differenzierten Menschenbild ist weiterhin gemeint, dass die Verletz-
lichkeit und Endlichkeit des Lebens größere Akzeptanz in unserer Gesellschaft
finden und überzeugende Formen des kulturellen Umgangs mit den Grenzen des
Lebens entwickelt werden. Diese Aufgabe gewinnt angesichts der Tatsache, dass
aufgrund der deutlich wachsenden Anzahl hoch betagter (80-jähriger und älterer
Menschen) auch die Zahl pflegebedürftiger und demenzkranker Menschen erkenn-
bar steigen wird, zunehmend an Bedeutung. Für die Diskussion zu Fragen des Men-
schenbildes ist wichtig, dass wir in unserer Forschung selbst bei demenzkranken
Menschen in späten Stadien der Erkrankung Prozesse der Selbstaktualisierimg er-
kennen konnten (Kruse 2010b, S. 17 ff): Dies heißt, dass noch in diesen späten Pha-
sen die grundlegende Tendenz des Psychischen erkennbar ist, sich auszudrücken,
sich mitzuteilen, sich zu differenzieren. Diese Tendenz spiegelt sich in - vielfach
sehr diskreten - mimischen Zeichen wider, die auf sensible Ansprache, vertraute
Stimmen, Bilder, Klänge, Düfte und Speisen gegeben werden. Ähnliche Beobach-
tungen haben wir bei der Begleitung sterbender Menschen gewinnen können. Die
Hervorhebung dieser Tendenz zur Selbstaktualisierung selbst im Falle der schwe-
ren (oder zum Tode führenden) Erkrankung erscheint uns als besonders bedeut-
sam, wenn es um Fragen des Menschenbildes geht (ausführlich dazu die Beiträge
in Fuchs, Kruse und Schwarzkopf 2010): Damit wird nämlich ausgedrückt, dass
der grundlegende Lebensimpuls - der elan vitale (Henri Bergson) - solange er-
kennbar ist, solange Psychisches existiert. Daraus folgt, dass dem Menschen das
Leben nicht abgesprochen wird, solange er lebt. Vor allem aber bedeutet dies, dass
wir dem schwer kranken oder sterbenden Menschen das Potenzial, eine Situation
als stimmig zu erleben, auch dann nicht absprechen, wenn er „auf den ersten Blick"
abgewandt, zurückgezogen und gedrückt erscheint. Aus diesem Grunde befassen
A. Kruse
Erweiterungen der Wissenssysteme (vor allem in Bezug auf fundamentale Fragen
des Lebens), die Neubewertung der eigenen Biografie im Lebensrückblick, neue
Formen mitverantwortlichen Lebens gegenüber nachfolgenden Generationen, die
Weiterentwicklung der Fähigkeit zum Schließen von Kompromissen zwischen Er-
reichtem und Nicht-Erreichtem, die Kompensation körperlicher Verluste sowie das
zunehmende Vermögen, in den Grenzsituationen des Lebens eine tragfähige Le-
bens- und Zukunftsperspektive auszubilden. Es handelt sich dabei um Entwick-
lungsmöglichkeiten, das heißt, um Potenziale, deren Verwirklichung als individu-
elle Entwicklungsaufgabe verstanden werden kann - wobei die Verwirklichung
dieser Potenziale durch eine Haltung in unserer Gesellschaft und Kultur gefördert
wird, die von einem grundlegenden Interesse an Fragen des Alters bestimmt und
offen für mögliche Gewinne ist, die das Alter des Menschen für unser Gemeinwohl
bedeutet. Ein Menschenbild hingegen, dass sich primär oder sogar ausschließlich
auf die körperliche Dimension der Person und damit auf das körperliche Altern
konzentriert, geht an diesen potenziellen seelisch-geistigen Kräften vorbei - und
erschwert damit zum einen individuelle Entwicklungsprozesse (kollektive Alters-
bilder haben Einfluss auf das individuelle Selbst), zum anderen aber den differen-
zierten gesellschaftlichen Diskurs zum Lhema Alter (ausführlich dazu die Beiträge
in Kruse 2010a).
Mit dem differenzierten Menschenbild ist weiterhin gemeint, dass die Verletz-
lichkeit und Endlichkeit des Lebens größere Akzeptanz in unserer Gesellschaft
finden und überzeugende Formen des kulturellen Umgangs mit den Grenzen des
Lebens entwickelt werden. Diese Aufgabe gewinnt angesichts der Tatsache, dass
aufgrund der deutlich wachsenden Anzahl hoch betagter (80-jähriger und älterer
Menschen) auch die Zahl pflegebedürftiger und demenzkranker Menschen erkenn-
bar steigen wird, zunehmend an Bedeutung. Für die Diskussion zu Fragen des Men-
schenbildes ist wichtig, dass wir in unserer Forschung selbst bei demenzkranken
Menschen in späten Stadien der Erkrankung Prozesse der Selbstaktualisierimg er-
kennen konnten (Kruse 2010b, S. 17 ff): Dies heißt, dass noch in diesen späten Pha-
sen die grundlegende Tendenz des Psychischen erkennbar ist, sich auszudrücken,
sich mitzuteilen, sich zu differenzieren. Diese Tendenz spiegelt sich in - vielfach
sehr diskreten - mimischen Zeichen wider, die auf sensible Ansprache, vertraute
Stimmen, Bilder, Klänge, Düfte und Speisen gegeben werden. Ähnliche Beobach-
tungen haben wir bei der Begleitung sterbender Menschen gewinnen können. Die
Hervorhebung dieser Tendenz zur Selbstaktualisierung selbst im Falle der schwe-
ren (oder zum Tode führenden) Erkrankung erscheint uns als besonders bedeut-
sam, wenn es um Fragen des Menschenbildes geht (ausführlich dazu die Beiträge
in Fuchs, Kruse und Schwarzkopf 2010): Damit wird nämlich ausgedrückt, dass
der grundlegende Lebensimpuls - der elan vitale (Henri Bergson) - solange er-
kennbar ist, solange Psychisches existiert. Daraus folgt, dass dem Menschen das
Leben nicht abgesprochen wird, solange er lebt. Vor allem aber bedeutet dies, dass
wir dem schwer kranken oder sterbenden Menschen das Potenzial, eine Situation
als stimmig zu erleben, auch dann nicht absprechen, wenn er „auf den ersten Blick"
abgewandt, zurückgezogen und gedrückt erscheint. Aus diesem Grunde befassen