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Hilgert, Markus [Hrsg.]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Hrsg.]
Heidelberger Jahrbücher: Menschen-Bilder: Darstellungen des Humanen in der Wissenschaft — Berlin, Heidelberg, 54.2010(2012)

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Verres, Rolf: Die Bedeutung von Kunst und Musik für das Menschen-Bild der Heilkunde
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https://doi.org/10.11588/diglit.16708#0247

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R. Verres

Da nun jeder Mensch seine eigene Biographie hat, zu der auch Hoffnungen,
Sehnsüchte und Ziele gehören, lässt sich eine allgemeingültige Theorie gelungener
Lebenskunst kaum formulieren - es gibt hierzu allerdings viel versprechende An-
sätze1 -2. Am Beispiel der Auseinandersetzung von Menschen mit lebensgefährli-
chen Erkrankungen (z. B. Krebs), die als eine Antithese der Lebenskräfte aufgefasst
werden können, habe ich in meinem Buch Die Kunst zu leben - Krebs und Psyche3
versucht, einige Grundlinien für ein Menschenbild zu entwerfen, welches die sub-
jektiven Theorien von Menschen über Vorsorge, Früherkennung, Behandlung und
die psychosozialen Folgen lebensgefährlicher Erkrankungen unter dem Aspekt der
Lebenskunst würdigt. Im vorliegenden Beitrag möchte ich diskutieren, welche Be-
deutungen Kunst und Musik für ein Menschenbild haben können, welches am Ge-
danken der Gesundheit als lebenslangem Prozess, als Möglichkeit einer ständigen
Weiterentwicklung der Lebenskunst orientiert ist.

In seiner wegweisenden Arbeit über Salutogenese hat Aaron Antonovsky4
folgende wichtige Aspekte der Lebenskunst bei der Auseinandersetzung mit Be-
drohungen benannt: das Kohärenzgefühl, die Verstehbarkeit, die Handhabbarkeit
und das Finden von Sinnzusammenhängen (Bedeutsamkeit). Die Theorie von An-
tonovsky hat einen enormen Widerhall vor allem in der psychosomatischen Medi-
zin gefunden, da sie deutlich macht, dass für ein Verständnis von Gesundheit die
Potenziale der Menschen genauso wichtig sind wie pathogenetische Einflüsse. Der
Begriff der Lebenskunst verweist auf weitere Potenziale, die von Antonovsky noch
nicht benannt wurden, aber in der psychosomatischen Medizin und auch in vielen
Bereichen der Rehabilitationsmedizin immer häufiger berücksichtigt werden: bei-
spielsweise in Form von Musik- und Kunsttherapie oder in Form von Gesprächen
über die subjektive Lebensphilosophie.

Seit einigen Jahrzehnten setzen sich in der westlichen wissenschaftlichen Medi-
zin solche Ansätze durch, die aufgrund von Prozessen des Zählens und Messens als
empirisch nachweisbare Behauptungen gelten können. Es gilt dann beispielswei-
se als „gesichert", dass eine Behandlungsmethode X der Behandlungsmethode Y
überlegen ist. weil die Überlebenszeiten bei Anwendung der Methode X statistisch
signifikant höher sind als bei Anwendung der Methode Y. Solchen nomothetischen
Modellen steht das idiographische Denken nahezu diametral gegenüber: Betrachtet
man jeden Menschen als einen Einzelfall, kommt man schnell zur subjektiven Sinn-
frage. Beispielsweise kann ein Krebspatient im Terminalstadium möglicherweise
mehr Sinn darin sehen, die letzten Lebensmonate zu Hause mit seinen Angehörigen

' Michel de Montaigne: Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett. Frankfurt.
1998.

2 Wilhelm Schmid: Philosophie der Lebenskunst. Frankfurt 2000: Wilhelm Schmid: Mit sich
selbst befreundet sein. Frankfurt 2004.

3 Rolf Verres: Die Kunst zu leben - Krebs und Psyche. Freiburg 2003: vgl. auch Rolf Verres: Krebs
und Angst. Subjektive Theorien von Laien über Entstehung. Vorsorge. Früherkennung, Behand-
lung und die psychosozialen Folgen von Krebserkrankungen. Berlin 1986.

4 Aaron Antonovsky: Health. Stress and Coping. San Francisco 1979. deutsche Übersetzung von
Alexa Franke. Tübingen 1997.
 
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