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Heidelberger Zeitung — 1898 (Januar bis Juni)

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Nr. 26 - 49 (1. Februar 1898 - 28. Februar 1898)
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Telephon-Anschluß Nr. 82.

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und den Plakatsäule«-

Telephon-Anschluß Nr. 82,

Xr. 42.

Kamst»«, -en 19. Februar

1898.

Der Prozeß gegen Zola.

Paris, 18.Febr.
Da heute die Aussage des Generalstabschefs Boisdeffre
erwartet wurde, der sich über das von General Pellieux
erwähnte nachträglich eingelaufene Beweismaterial gegen
Dreyfuß äußern sollte, so war der Zudrang des Publi-
kums zu der heutigen elften Sitzung wieder sehr groß.
General Boisdeffre erschien auch und gab seine Aussage
ab, es war aber die reinste Komödie; eine thatsächliche
Aufklärung, nach der Jedermann lechzt, hat er nicht gegeben.
General Boisdeffre: Ich bestätige in allen Puncten die
Aussagen des Generals Pellieux als authentisch. Ich füge kein
Wort weiter hinzu, kein Wort weiter! (Anhaltende Bewegung.)
Aber, meine Herren Geschworenen! sagt Boisdeffre, sich zu den
letzteren wendend, Sie sind hier die Nation, Sie vertreten sie!
Wenn die Nation kein Vertrauen zu den Führern ihres Heeres
hat, so sagen Sie es! Wir sind bereit, anderen die Sache
unserer Verantwortlichkeit zu überlassen. Meine Herren Ge-
schworenen! Sie, die Sie die Nation sind, sprechen Sie es aus
und sagen Sie es! (Rufe: „Ja wohl!", „Hoch die Armee!" und
Händeklatschen erschallen, als Boisdeffre von der Schranke
zurücktritt.)
Eine solche Beeinflussung der Geschworenen durch einen der
höchsten Generäle steht wohl in der Geschichte des Schwur-
gerichts einzig da.
Nach der Aussage Boisdeffres sagt Labori: Ich möchte an
den General Fragen stellen.
Präsident: Sie werden diese Fragen nicht stellen.
Labori: Wie?
. Präsident: Nein; ich sage Ihnen, Sie werden sie nicht
stellen. (Lebhaft): Man lasse einen anderen Zeugen kommen.
Trotz des erregten Einspruches Laboris, der ankündigt, daß
er seine Anträge einbringen werde, wird Esterhazy vom Gertchts-
dlener herbeigeholt. Er erscheint alsbald. Im Saal herrscht
«efes Schweigen. Labort weigert sich, an Esterhazy Fragen zu
stellen, da er erst seine Anträge in Bezug auf die eben passirten
Vorfälle allseitigen müsse. Esterhazy erklärt, sich wohl von dem
Präsidenten, nicht aber (auf Zola und die Änwälle zeugend)
don jeinn Leuten da ausfragen lassen zu wollen.
In einem seiner Anträge, die er verliest, betont Labori,
wie unbillig und ungerecht es sei, wenn die Offiziere alles sagen
dürfen, was sie wollen, während der Vertheidigung das Wort
verweigert werde. Das sei eine thatsächliche Verletzung der Ge-
rechtigkeit. Labori spricht sodann von dem, der auf der Teufels-
insel leide und deswegen ohne Zweifel für dte im Hintergründe
des Saales Brüllenden uninteressant sei. Er bitte die Mitglieder
des Gerichtshofes, sich über das Murren des Saales zu stellen,
der nicht wisse, warum er eine Kundgebung veranstalte. (Oh!
Ah!) Meine Herren Geschworenen, stellen Sie sich über die
Erregung eines irregeleiteten Landes! Ziehen Sie in Betracht,
daß Sie vielleicht an einem Wendepunkt der Geschichte
Unseres Landes stehen, wie auch Ihr Beschluß erfolgen
wird, welchen Niemand heute voraussehen kann. Die Generäle
durften ungehindert die schwerstwiegenden Behauptungen betreffs
des Falles Dreyfus vorbringen, ohne daß jetzt gestattet werde,
die Stichhaltigkeit der Behauptungen contradictorisch zu prüfen.
Das Publikum machte stürmische Kundgebungen
llegen Labori, weil er die Generäle scharf angriffe. Rufe:
»Ins Wasser mit Labori!" werden laut. Selbst Offiziere nehmen
wi der Kundgebung theil. Die Verhandlung wird unterbrochen.
Per Gerichtshof weist die Anträge der Vertheidigung ab, worauf
Advokat Clerneuceau erklärt, Frau de Boulancy wolle aussagen,
falls ihre persönliche Sicherheit gewährleistet sei.
Oberstlieutenant Ptcquart erscheint an der Zeugenbarre und
"klärt, er glaube, daß das Papier, von dem General
Pellieux gesprochen, lediglich den Zweck hatte, zur Berthei-
.lgung Esterhazys zu dienen. Er halte dieses Papier für
"ne Fälschung.

General Gonse beschränkt sich darauf, auf die Aussagen des
Generals Boisdeffre betreffs der Authenticität des Documentes
Knzuweisen.
-Major Esterhazy wird aufgerufen. Labori fragt, ob die
Schrift des Bordereaus von ihm herrühre. Major Esterhazy
verweigert die Antwort. Ec erklärt, er werde keinerlei Fragen
Vertheidigung beantworten. Advocat Clemenceau verliest
seiner Zeit vom Figaro veröffentlichten Briefe Esterhazys
Md fragt, ob er die Urheberschaft der Briefe anerkenne. Ester-
Mzy schweigt. Clemenceau verliest den sogen. Ulanen-
vrief und fragt, ob er ihn geschrieben habe. Esterhazy steht
fvdtenbleich an der Barre während dieser aufregenden, furchtbar

NM» Das Romanfenilleton findet der Leser im heutigen
weiten Blatt. _
Schweninger und der Soxhlet-Apparat.
. Geheimrath Prof. Dr. Schweninger hielt am 12. Febr.
München zum Besten der Pensionsanstalt deutscher
Journalisten und Schriftsteller einen Vortrag, der unter
efst Titel „Aerztliche Plaudereien" angekündigt war. Po-
mläre Medizin hat bekanntlich von jeher eine ungeheure
Mehungskraft besessen, der Name des Leibarztes des
Fürsten Fürsten Bismarck that das übrige, und so war
Saal bis zum Erscheinen des Vortragenden sehr gut,
auch nicht lückenlos von einem erwartungsvollen
VUvlikurn besetzt. Schweninger hielt, was er versprochen:
.f waren in der That höchst zwanglose ärztliche Plaudereien,
er bot. Im ersten Theil seines Vortrags schien
wweninger nach einem festen Punkt zu suchen, an dem
. sein Thema anknüpfen mochte. Er erinnerte sich, daß
We Medizinische Wiege hier in München stand, und seiner
^hrer, um dann ein wenig aus der Schule zu plaudern
«o sei^n Zuhörern einen Einblick in die Gründe zu ge-
ohren, die Schweninger mit der Zeit bewogen, aus
lus Medizinisch gläubigen Paulus ein oppositioneller Sau-
s zu werden. In diesem ersten allgemein gehaltenen
heil des Vortrags wurden schon medicinische Fragen,
uvb Vivisektion, der antiseptischen Wundbehandlung
deren Kindheit, gestreift. Ueberall brachte der Vor-
..."Lende seine Anschauungen mit der an ihm bekannten
erstchtslosen Offenheit zur Aussprache.

peinlichen Szene. Clemenceau verliest noch weitere ähnliche
Briefe Esterhazys und schließlich die ausgezeichneten Dienst-
zeugnisse Esterhazys. Er fragt ihn dann, ob er an der Börse
gespielt habe und immer in Geldverlegenheiten gewesen sei.
Esterhazy schweigt hartnäckig. Clemenceau fragt weiter,
ob Esterhazy nicht selbst die erschreckende Aehnlichkeit seiner
Handschrift mit der des Bordereaus festgestellt habe, ob
er nicht befürchtet habe, betreffend des ihm von der ver-
schleierten Dame übergebenen, ans dem Kriegsministerium
entwendeten „rettenden" Documentes der Mitschuld an einem
Diebstahl bezichtigt zu werden. Esterhazy schweigt. Advocat
Clemenceau fragt, ob Esterhazy Beziehungen zum deutschen
Militärattache v. Schwarzkoppen unterhalten habe. Der Prä-
sident erklärt, daß er die Frage nicht zulassen werde, da sie
die äußere Politik betreffe. Clem enceau fragt, ob Esterhazy
nicht selbst in den Blättern von diesen Beziehungen gesprochen
habe. Der Präsident lehnt die Frage ab. Clemenceau
erklärt es als unfaßbar, daß vor Gericht nicht über eine von
einem französischen Offizier begangene Handlung gesprochen
werden dürfe.
Präsident ruft: Nein! Denn die Ehre und die Sicher-
heit des Landes stehen höher! (MinutenlangerBeifallssturm
eines Theiles des Auditoriums.)
Clemenceau: Ein französischer Offizier kann also des-
gleichen thun, man darf aber nicht davon sprechen! Ein Mit-
arbeiter des „Figaro" bekundet, daß Esterhazy von seinen Re-
gimentskameraden ungünstig beurtheilt worden sei.
General Guerrier solle bekunden, ob er die fälschliche Be-
lobigung Esterhazys aus dessen Führungsliste gestrichen habe.
Der Präs ident weist den Zeugen zurück, da dieser nicht
gesetzmäßig vorgeladen sei.
Die Verhandlung wird um 4'/, Uhr geschlossen.
Die Generäle werden beim Verlaßen des Justizpalastes
begrüßt. Esterhazy wird von der Menge mit stürmischen
Hochrufen begrüßt!

Deutsches Reich.
Berlin, 18. Februar.
— Aus Washington ist folgendes Antworttelegramm
nach der Beileidsdepesche des deutschen Kaisers anläßlich
der Katastrophe der Maine eingelaufen: „S. M. Kaiser
und König Wilhelm, Berlin. Als Wortführer der tiefen
Trauer eines schwer betroffenen Volkes nehme ich dank-
erfüllt Kenntniß von Ew. Majestät Beileidbotschaft.
William Mc. Kinley."
— Die Norddeutsche Allg. Ztg. stellt eine im Sieg-
boten veröffentlichte Mittheilung übdr eine angeblich mehr-
wöchige Expedition nach Schantung mit verschie-
denen für die Chinesen verlustreichen Gefechten folgender-
maßen richtig: Auf einem mehrtägigen Marsche eines
Theiles des Landungscorps durch das besetzte Gebiet, um
den Eindruck der Besetzung auf die Bevölkerung zu ver-
stärken, klagten die Bauern, daß chinesische Marodeure die
Dörfer des besetzten Gebietes ausplünderten. Daher wurde
am 1. December die Verfolgung des Gesindels eingeleitet.
Der Zug, eine Abtheilung des „Kaiser", feuerte bei Fa-
haisre zwei Salven über die Köpfe der Marodeure ab,
von denen jedoch Niemand getroffen wurde. Die Maro-
deure feuerten darauf von der Seite und dem Rücken leb-
haft auf die Marinemannschaften. Erst dann wurde deut-
scherseits geschossen. Die Marodeure flohen aufgelöst über
die Gebietsgrenze und ließen drei Todte zurück, deren Be-
erdigung den Bauern aufgetragen wurde, und 4 Verwun-
dete, die verbunden wurden. Die Deutschen hatten weder
Todte noch Verwundete und kehrten ohne Zwischenfall nach
Kiaotschau zurück.
Deutscher Reichstag. Berlin, 18. Februar. Zweite
Berathung des Etats des Kriegsminsteriums, Titel
Kriegsminister.
Berichterstatter Graf Roon berichtet über die Verhandlungen
der Commission.
Abg. Dr. Lingens (Ctr.) tritt für Sonntagsruhe und Sonn-
tagsheiligung im Heere ein und gibt seiner Freude darüber Aus-
druck, daß die Herstellung von Simultankirchen eingestellt worden sei.

Kriegsminister v. Goßler bemerkt auf eine Anregung des
Vorredners, daß an einem katholischen Feiertage in Köln eine
Abtheilung Artillerie ausmaschirt sei und Mannschaften des 8.
Kürassierregiments Dünger gefahren hätten. Der Rhein. Merkur,
der diese Dinge scharf kritistrt habe, sei auf seine Klage zu 50 Mk.
Geldstrafe verurtheilt worden. Der Ausmarsch der Artillerie war
durch Garnisonwechsel bedingt worden. Die Katholiken des Küras-
sierregiments wurden am Morgen zur Kirche geführt. Daß die
Düngerwagen an einer Procession vorbeikamen, geschah nicht aus
Absicht. Daß überhaupt gefahren wurde, beruhe auf Anordnung
des Wachtmeisters, da Bestellungen Vorlagen. Es sei aber Remedur
eingetreten.
Abg. Bebel (Soc.): Mir ist wieder eine große Anzahl Zu-
schriften zugegangen, mit den detaillirtesten Angaben und Namens-
unterschriften. Die Schreiber bitten alle, ja ihre Namen nicht
bekannt zu geben, da sie noch Soldaten seien und sonst darunter
zu leiden hätten. In zwei Fällen, die Redner anführt, in Königs-
berg und in Wesel, seien Soldaten infolge von Mißhandlungen
gestorben. Redner bringt die Maßregelung eines natioualsocialen
Reserveoffiziers zur Sprache. Nur ein guter Christ soll ein guter
Soldat seiu können. Nun, dann soll man die Nichtchristen von
der Wehrpflicht befreien. Solche Anschauungen seien bedenklich.
Es gebe doch viele, die gut monarchisch seien, ohne sich gute Chri-
sten nennen zu können.
Der Präsident bittet, eine Kritik der höchsten Stelle zu
unterlassen.
Abg. Bebel: Die Ausgaben für das Heer würden immer
größer. Die Vermehrung der Artillerie sei ja beschlossen. Möge
der Gedanke der allgemeinen Wehrpflicht voll zur Ausführung
kommen, aber in einer Weise, die dem deutschen Volke sein Opfer
erträglich mache. Redner geht nnn des näheren auf das Miliz-
system ein.
Kriegsminister v. Goßler bittet entschieden die Beschwerden
der Regierung vorher vorzulegen, sonst könne Letztere ihre Rich-
tigkeit oder Unrichtigkeit nicht feststellen. Das System des Ab-
geordneten Bebel ist: er klagt an, er verurtheilt, er macht seine
Schlüffe. Vielleicht scheuen sich die Leute, sich zu beschweren.
In der alten Armee haben wir solche Scheu nicht gekannt. Das
ist ein Mangel an Muth. Wenn die Socialdemokratie das Ver-
trauen zu den Vorgesetzten erschüttert, so werden schwächere
Naturen nicht den moralischen Muth haben, sich zu be-
schweren. Der Unteroffizier in Königsberg ist wegen Miß-
handlung degradirt worden und hat sechs Monate Festung er-
halten. Ich gönne ihm die Strafe von Herzen. Der Unter-
offizier in Wesel erhielt zehn Monate Festung und ist gleichfalls
degradirt worden; ein Gefreiter erhielt 14 Monate Festung.
Bedauerlich ist es nur, daß die Mannschaften nicht den Muth
hatten, sich zu beschweren. Eine allgemeine Unzufrieden-
heit mit der Behandlung der Soldaten besteht bei uns nicht.
Die Bezeichnung „Judenitzig" ist eine einfache Beleidigung, die
bestraft werden muß. Die Politik muß von der Armee fernge-
halten werden und es ist auch gut, wenn die Lehren der Sozial-
demokratie dort nicht Platz greifen (Lachen links), denn die
Herren leben von Versprechungen, die sie nicht erfüllen, und Be-
hauptungen, die sie nicht beweisen können. Die Protokolle der
sozialdemokratischen Parteitage waren einfach langweilig. (Heiter-
keit.) Eine Milizarmee sei nicht fähig zu sofortige» Operationen,
was für uns doch sehr nöthig sei. Die schweizerischen Verhält-
nisse paßten nicht für uns. Daß uns die Zeit der Noth lehren
wird, das System Bebels anzunehmen, glaube ich nicht Im
Gegentheil, nähmen wir es an, so würden wir erst in die Zeit
der Noth kommen. (Beifall.)
Abg. Kunert (Soz.) verlangt ein ausreichendes Beschwerde-
recht und das Recht der Nothwehr für die Soldaten und tadelt
die mangelnden Schutzvorrichtungen und Nichteinhaltung der
Sonntagsruhe in den Militärwerkstätten.
Kriegsminister von Goßler verweist auf die ausführlichen
Verhandlungen der Frage der Sonntagsruhe in der Commission
Les vorigen Jahres und einen kaiserlichen Erlaß hierüber von
1896.
Schluß 57« Uhr.
Morgen 2 Uhr: Postdampfersubventionsvorlage.
Badischer Landtag. L.O. Karlsruhe, 18. Februar.
40. öffentliche Sitzung der II. Kammer.
Es wird die Berathung des Etat-Titels Landwirth-
chaft fortgesetzt.
Abg. Pfefferte (nat.-lib.) betont im Gegensatz zu den Be-
schwerden des Abg. Eder, daß für die Landwirthschaft in Baden
außerordentlich vi>l geschehen sei. Als s. Z. Altmeister v. Lie-
big seine Theorien schrieb, ahnte Niemand, daß diese einmal
Allgemeinheit werden. Heute ist in allen landwirthschaftlichen
Kreisen die Lehre vom Stoffwechsel bekannt. Und das verdankt

Der Hauptreiz der ärztlichen Plauderei bestand in der
Unmittelbarkeit des gesprochenen Wortes, weniger in dem,
was er sagte; denn einem großen Theil des Publikums
war Schweningers Stellung gegen die Aerzte und seine
Opposition gegen die unrichtige Auffassung seines Verhält-
nisses zu Oertel, das Mißverstehen der sog. Schweninger-
Kur u. s. w. wohl bekannt. Neben bekannten hiesigen
Aerzten waren merklich viel studirende Mediziner im Saale
anwesend, und die sorgten dafür, daß sich der 2. Theil
der Plaudereien zu einem sehr animirten Frag- und Ant-
wortspiel gestaltete. Geheimrath Schweninger forderte,
wie schon vorher bei seinen Vorträgen in Berlin und Wien,
die Anwesenden auf, an ihn Fragen zu stellen, er werde
sie zu beantworten suchen. Nun gabs Anfragen von allen
Seiten: man fragte den Plauderer, was er vom Alkohol,
von der Quecksilberbehandlung, von der Suggestions-, von
Organotherapie u. s. w. halte, und überall stellte er schlag-
und kampffertig seinen Mann. Dies hatte sichtlich auch
für die anwesenden Laien den größten Reiz.
Eine interessante Debatte entspann sich aber, als
Schweninger gelegentlich der das Kind betreffenden Er-
nährungsfragen sich entschieden gegen die Soxhlet-Präpa-
rate aussprach. Der Vorstand des Schriftstellervereins
machte nämlich darauf aufmerksam, daß der Erfinder,
Prof. Soxhlet, sich unter den Zuhörern befinde. Die
Erörterung wurde, wie die M. N. Nachr. erzählen, durch
die Frage eingeleitet: „Mit was soll der Neugeborene
ernährt werden? „Mit Kuhmilch", rief der Vortragende
aus, aber nicht mit Soxhlet. Mit Ammenmilch? Nein,

Redner verwirft unter ziemlich starken Ausdrücken das
ganze Ammenprinzip. Was ich gegen den Soxhlet habe?
Nicht viel, aber gegen den Wahnsinn etwas. Wenn der
Soxhlet mir bloß die Pilze zerstören würde, die möglicher-
weise in der Milch sind, würde ich nicht viel dagegen
haben, aber wenn der Mensch so weit geht, daß er alles
ihn Umgebende abschließen will, woher soll er Wider-
standsfähigkeit haben? Man muß den Menschen gewöhnen,
all den Gefahren entgegentreten zu können, wenn wir ihn
verpäppeln, wenn wir ihn seine Zähne nicht gebrauchen
lassen, wohin soll das führen? Ich begreife nicht, daß
man in diesem Angstmachersystem so weit gehen kann,
daß man kein menschenwürdiges Dasein mehr führt.
Wenn ein Mensch dazu kommen kann, bekannt zu geben,
ein Glashaus vollständig aseptisch zu halten, wenn er es
über sich bringen kann, dem Menschen nicht mehr die
natürlichen Hilfsmittel, Licht, Luft und Wasser, zukommen
zu lassen, das ist kein Mensch mehr, sondern eine Puppe,
der soll zum Teufel gehen. Es wurde aus der Zuhörer-
schaft erwidert: Warum sollen die Kinder, die nicht die
Kraft hätten, unzubereitete Milch zu konsumiren, einfach
zu Grunde gehen? Die Soxhletfrage habe für München
erhöhtes Interesse, da die segensreiche Erfindung von
hier ausgegangen sei. Herr Prof. Soxhlet ist selbst im
Saale (Bravorufe), derselbe sei gewiß etwas überrascht
gewesen über die Ausführungen des Redners, dieser
möge bei der Wichtigkeit der Soxhletfrage vielleicht mit
Herrn Prof. Soxhlet darüber selbst dcbattiren. Redner
erklärt sich dazu bereit; er wolle zugestehen, daß jeder
 
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