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Heidelberger Familienblätter — 1877

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No. 70 - No. 78 (1. September - 29. September)
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einziger Erbe ſei.
ler beſcheidener Knabe, der die unabhänige Stellung ſeines
Vaters vom Baron recht wohl begriff und hiernach
handelte.
Ein herrlicher Zug in des jungen Barons Charakter
war ein faſt peinliches Gefühl für Recht und Gerechtig-
keit, gemiſcht mit einem hohen Sinne für Selbſtloſigkeit
und Aufopferung. Dies machte ſich ſchon bei den kind-
lichen Spielen geltend und erwarb ihm die engſte Freund-
ſchaft des Paſtorſohnes, der zu ſeinem jungen Herrn wie
zu einer weit über ihm ſtehenden Perſou aufzuſehen ſich
gewöhnt hatte und ganz der rauhen Schale vergaß, in
welcher ſich der reine und weiche Kern befand.
Als beide Knaben das fünfzehnte Lebensjahr erreicht
hatten, kam die Zeit heran, daß auch der Pfarrer einſah,
wie ſein eigenes Wiſſen weder für den jungen Herrn
noch für den eigenen Sohn mehr genüge, daß es vielmehr
nothwendig werde, beide auf eine gelehrte Schule zu ſen-
den, um die weitere Erziehung zum Abſchluß zu bringen.
Der Pfarrer theilte dieſe Ueberzeugung dem Baron mit,
der ſeinerſeits anfänglich Einwendungen erhob, ſich aber
doch für die Dauer den Anforderungen der Zeit nicht
würde haben entziehen können. Ehe aber ein definitwer
Beſchluß gefaßt wurde, änderte ſich die Sachlage ganz
plötzlich. ö
Kurt fand eines Morgens, als er zur Begrüßung
ſeines Vaters nach dem Thurmzimmer ging, zu ſeinem
Entſetzen dieſen todt auf dem Bett. Ein Herzſchlag
hatte dem Leben des Barons ein raſches Ziel geſetzt.
So einſam wie er gelebt, ſo einſam ging er auch
zu ſeiner Ruheſtätte. Außer dem wenigen Hofgeſinde,
das dem Sarge vorausſchritt, folgte nur der Sohn mit
dem Pfarrer u. dem Perſonal des Patrimonialgerichts, dem
Amtmanne und einigen Kanzliſten. Das war alles. Der
Baron hatte ſich um Stadt und Land nicht bekümmert,
Stadt und Land bekümmerten ſich nicht um ihn. Hoch-
muth und Geiz hatten dem Baron die Herzen entfremdet,
kein anderer trauerte um ihn, niemand rief ihm ein freund-
liches Wort auf ſeinem letzten Gange nach. Das Leichen-
gefolge war ſo kümmerlich, ſo winzig im Vergleich zu
derartigen Aufzügen, daß man in der Bürgerſchaft ſagte,
der Baron würde wenn er das Gefolge haͤtte ſehen kon-
nen, vielleicht das erſte mal in ſeinem Leben gelächelt
aben.
Es war am 22. Mai 1806. ö
Der Baron war in der Frühe begraben, der Tod
hatte für alles Quittung geleiſtet.
Am Vormittage kurz vor der Beerdigung ſaß Kurt
von Buchwald am Fenſter des Thurmzimmers, in wel-
chem der Vater geſtorben war und ſtarrte mit verwein-
ten Augen auf das grüne Laub der Bäume unten in
der Tiefe. Mit dem fünfzehnten Jahre ſtand er allein,
ganz allein in der Welt, die weite Zukunft lag vor ihm
und nächſt dem Gedächtniſſe an den Vater ſchweiften ſeine
Gedanken zu jener hinüber. Kurt von Buchwald hatte
beim Begräbniſſe keine Thräne vergoſſen. Die Augen
zur Erde geſenkt, mit zuſammengepreßten Lippen, die

Johannes Klug dagegen war ein ſtil-

Züge ſtarr als wären ſte von Stein, war er hinter dem

Sarge zum Grabe gefolgt. Mit all der Engergie ſeines
Charaters hatte er den Schmerz, der ſich äußerlich gel-
tend machen wollte, niedergekämpft und als die erſten Schol-
len dumpf auf den Sarg des Vaters rollten, da hatte
der Knabe faſt leiſe und unbemerkt die Hände gerungen
und war dann am Arme des Geiſtlichen und kein Wort
auf deſſen Zuſpruch erwidernd, in das Schloß zurückge-
kehrt. Im Thurmziumer angelangt hatte er die Thür
hinter ſich verſchloſſen und ſich an das Fenſter geſetzt,
wo niemand als die Vögel der Luft auf ihn hernieder-
ſchauen konnten. ö

hed ſtolze Knabe! Eigentlich wohl kein Knabe

meh ö
Der Stolz, der unrechte Stolz war es geweſen, de
bisher die Thränen zurückgedrängt, der ihn ernſt und talt
hatte erſcheinen laſſen. Jetzt aber, hier, in dem Zimmer
des Vaters, an deſſen Seite er ſo lange Jahre geſeſſen
brachen alle Erinnerungen ſich Bahn und Kurt weinte
ſeinem Vater die unverfälſchte kindliche Thräne nach.
ö Da wurde leiſe an der Thür gepocht. Unwillig über
die Störung ſtand der junge Baron auf, lehnte ſeine
glühende Stirn einen Augenblick an die kühle Scheibe des
Fenſer . ging um zu öffnen.
er Pfarrer Klug ſtand vor ihm, ſeinen
hannes an der Hand. 7 im ſenen Sohn de
Der Pfarrer hatte den Knaben mißverſtanden, durch-
aus mißverſtanden. Er hatte den thränenloſen ſtarren
Blick, mit welchem der Sohn dem Sarge des Vaters ge-
folgt war, nicht begriffen, er hatte Gleichgiltigkeit mit
ſchwer erkämpfter ſcheinbarer Ruhe verwechſelt.

CFortſetzung folgt.)

Ber Jondoner Broſchkenkutſcher.

(Ein Straßenbild von der Themſe.)

Mehr vielleicht als die Mitglieder irgend einer an-
deren Bevölkerungs⸗ und Berufsklaſſe haben ſich im Laufe
der letzten Decennien die Lenker des öffentlichen Fuhr-
werkes, zumal die Kutſcher der recht uneigentlich ſo ge-
nannten Droſchken zu einem eigenartigen Menſchen-
gewächſe, zu typiſchen Charaktergeſtalten im Straßenleben
unſerer europäiſchen Welt⸗ und Großſtädte entwickelt.
Der Berliner, der Pariſer, der Wiener, der Hamburger
Droſchken⸗Automedon, oder wie immer ſeine beſondere
locale Bezeichnung lauten mag — jeder unterſcheidet ſich
von dem anderen in ſo ausgeſprochener Weiſe, daß die
allgemeine National⸗ und Provinzial⸗Verſchiedenheiten
allein nicht ausreichen, den ſpeciellen Habitus der den
genannten Orten angehörenden Droſchkenführer zu er-
klären. Zumal aber iſt es der Londoner, der Cabman,
welcher den Straßenbildern der Millionenſtadt einen ihrer
bezeichnendſten Züge einfügt und, der immer von Neuem
erregten und gefeſſelten Aufmerkſamkeit ſelbſt des gleich ·
giltigen Beobachters ſo leicht nicht entgehend, zu Menſchen-
und Seelenſtudien herausfordert.
Der Cabmann zählt zu jener großen Kategorie von
Sterblichen, die beſſer ſind, als ihr Ruf. Trotz ſeiner
traditionellen groben Stimme, ſeines rauhen Ausſehens
und grämlichen Anſtrichs iſt er in der Regel ein zuver-
läſſiger und ehrlicher Burſche, der ſich rühmen darf, den
ſchweren Kampf des Lebens mit Ernſt, Ausdauer und
Ehrenhaftigkeit gekämpft zu haben. Die Biographie, wie
ſie einer derſelben dem Herausgeber eines neuen artiſtiſch-
literariſchen engliſchen Werkes “) mittheilte, dem wir einen
Theil der nachſtehenden Daten entlehnen, dürfte wohl für
die Antecedentien einer beträchtlichen Fraction der Lon-
doner Cabmen maßgebend ſein. Der in Rede ſtehende
Droſchkenkutſcher begann ſeine bürgerliche Laufbahn als
Bierausträger in einer Schenke und erhielt nach einigen
Jahren eine Stelle als Conducteur bei der hauptſtädtiſchen
Tramway⸗Compagnie. Nach mehreren Jahren ſorgſamen
Sparens hatte er ſo viel Geld bei Seite gelegt, um ſich

*) Street Life in London. By J. Thomson, and Adolphe
Smith. With permanent photographic illustrations taken from
lite for this publication. (London, Samson Low, Manton,

Scarle et Rivington; in 4.) 1. Heft.
 
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