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mit seinem eigenen Verstände, und redet mit eigener Zunge, so
zwar, dass seine Werke ein äußerst persönliches Gepräge auf-
weisen.
Die theoretischen Auseinandersetzungen sind, wie mit Zeich-
nungen von seiner Hand, so mit kritischen Glossen und belebenden
Beispielen durchwebt. Dabei nimmt er fortwährend Bezug auf
Portugal, dessen wirkliche Zustände in Sachen der Kunst als
unhaltbar hinzustellen für den Reformator eine Hauptsache war.
Um seine Gönner und Leser davon zu überzeugen, dass er und
kein anderer der berufene Retter sei, rückt er dann sein Wissen
und Können, seine persönlichen Versuche, Erfahrungen und
Erlebnisse so oft wie möglich in den Vordergrund. Eu vi, ich
selber habe gesehen, kehrt unaufhörlich wieder, gefolgt
meisthin von einem Hinweise auf Renaissance-Bilder, Statuen
und Gebäude oder Anticaglien, die er bewundert, gezeichnet,
ausgemessen und gründlich analysiert hat. An Anekdoten, nicht
bloß aus Plinius, sondern aus dem Leben der italienischen
Künstler, an Citaten aus Dichtern und Denkern, an Kraftworten
über bestimmte, ihm bekannte lebende Persönlichkeiten ist kein
Mangel. Der meistgenannte ist natürlich Michel Angelo.
Obgleich ein Anfänger und in so vieler Hinsicht ein Schüler
italienischer Maler und Architekten, spricht der junge Portugiese
von ihnen und zu ihnen, wie einer, der mit den allerersten in
eine Reihe gehört. Selbst der befremdend naiven Formel
Michel Angelo und ich begegnet man (Pint. f. 28 v.) oder gar
Apelles, Michel Angelo und ich (Des./. 57). Serlio, der
ihm seine Achtung bezeugt hatte, wird getadelt, weil er die
vitruvianischen Maße verändert hat, ebenso Gauricus. Ja er
scheut sich nicht auszusprechen, das Weltgericht sei mit
Figuren zu überladen (atarracado), nur um seiner individuellen
Vorliebe für lockere Composition willen. Selbst wo er nichts
als ein Sprachrohr Buonarroti’s sein will und sein sollte wie
in den Dialogen, kommt seine eigene Auffassungsweise zum
Durchbruch. Muss man nicht stutzen, wenn man dort, in directem
Widerspruch zu bekannten Aussagen des Meisters, vernimmt,
dieser sei mehr Maler als Bildhauer gewesen? Nicht als ob ich
annähme, das sei einfach erfunden. Während der Schöpfung des
Weltgerichtes kann eine solche Äußerung gefallen sein, da ja auch in
Briefen von Michel Angelo zu lesen ist, er habe als Bildhauer
mit seinem eigenen Verstände, und redet mit eigener Zunge, so
zwar, dass seine Werke ein äußerst persönliches Gepräge auf-
weisen.
Die theoretischen Auseinandersetzungen sind, wie mit Zeich-
nungen von seiner Hand, so mit kritischen Glossen und belebenden
Beispielen durchwebt. Dabei nimmt er fortwährend Bezug auf
Portugal, dessen wirkliche Zustände in Sachen der Kunst als
unhaltbar hinzustellen für den Reformator eine Hauptsache war.
Um seine Gönner und Leser davon zu überzeugen, dass er und
kein anderer der berufene Retter sei, rückt er dann sein Wissen
und Können, seine persönlichen Versuche, Erfahrungen und
Erlebnisse so oft wie möglich in den Vordergrund. Eu vi, ich
selber habe gesehen, kehrt unaufhörlich wieder, gefolgt
meisthin von einem Hinweise auf Renaissance-Bilder, Statuen
und Gebäude oder Anticaglien, die er bewundert, gezeichnet,
ausgemessen und gründlich analysiert hat. An Anekdoten, nicht
bloß aus Plinius, sondern aus dem Leben der italienischen
Künstler, an Citaten aus Dichtern und Denkern, an Kraftworten
über bestimmte, ihm bekannte lebende Persönlichkeiten ist kein
Mangel. Der meistgenannte ist natürlich Michel Angelo.
Obgleich ein Anfänger und in so vieler Hinsicht ein Schüler
italienischer Maler und Architekten, spricht der junge Portugiese
von ihnen und zu ihnen, wie einer, der mit den allerersten in
eine Reihe gehört. Selbst der befremdend naiven Formel
Michel Angelo und ich begegnet man (Pint. f. 28 v.) oder gar
Apelles, Michel Angelo und ich (Des./. 57). Serlio, der
ihm seine Achtung bezeugt hatte, wird getadelt, weil er die
vitruvianischen Maße verändert hat, ebenso Gauricus. Ja er
scheut sich nicht auszusprechen, das Weltgericht sei mit
Figuren zu überladen (atarracado), nur um seiner individuellen
Vorliebe für lockere Composition willen. Selbst wo er nichts
als ein Sprachrohr Buonarroti’s sein will und sein sollte wie
in den Dialogen, kommt seine eigene Auffassungsweise zum
Durchbruch. Muss man nicht stutzen, wenn man dort, in directem
Widerspruch zu bekannten Aussagen des Meisters, vernimmt,
dieser sei mehr Maler als Bildhauer gewesen? Nicht als ob ich
annähme, das sei einfach erfunden. Während der Schöpfung des
Weltgerichtes kann eine solche Äußerung gefallen sein, da ja auch in
Briefen von Michel Angelo zu lesen ist, er habe als Bildhauer