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Kunsthistorisches Institut <Wien, Universität> [Hrsg.]
Jahrbuch des Kunsthistorischen Institutes — 5.1911

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Hauser, Paul: Denkmalpflege und Stil
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https://doi.org/10.11588/diglit.18127#0261
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Paul Hauser Denkmalpflege und Stil

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Forderung auf, daß ein solcher Zubau womöglich
in der Art zu erfolgen hätte, daß man Alt und Neu
überhaupt nicht voneinander unterscheiden könne,
also nicht nur im Stil, sondern im ganzen Aussehen
solle der neue Zubau dem alten bis zum Verwechseln
angeähnelt werden. Ihm gegenüber erhob sich Kor-
nelius Gurlitt und suchte unter fast einhelligem
Widerspruch nachzuweisen, daß Tornov eine Un-
möglichkeit verlangt hätte. Scheine auch die An-
gleichung dem Auge des Heute eine vollkommene,
nach kurzer Zeit trete die Nachahmung zutage und
erwecke das ärgerliche Gefühl einer Fälschung.
Wahrhaftiger sei es, den neuen Zubau im Stile der
Gegenwart auszuführen. Der fast allgemeine Wider-
spruch, den Gurlitts Ausführungen fanden, war
damals erklärlich, denn das, was man vor 10 Jahren
vom Stile der Gegenwart meist zu sehen bekam,
ließ den wenigsten den Mut, ein altes Denkmal mit
ihm zu vermählen. Seit jener Zeit haben sich die
Ansichten sehr geändert, und fügen wir hinzu —
der Stil der Gegenwart auch.

Wer hat nun recht? Um über die Frage ins
klare zu kommen, wäre zu erörtern, was der Stil ist,
wie er entsteht.

Ist er vielleicht so entstanden, daß sich die
Künstler zusammengetan und gewisse Regeln auf-
gestellt, gewisse Ornamente ersonnen und die Ver-
abredung getroffen haben, nach diesen Regeln und
mit diesen Ornamenten von jetzt an arbeiten zu
wollen? Gewiß nicht! Die echte Stilbildung erfolgte
in anderer Weise. Wäre die Stilbildung auf irgend
welche bestimmte Entschlüsse zurückzuführen, so
hätten sich starke oder eigenwillige Künstlerindividu-
alitäten immer dem Stile zu entwinden gesucht,
gewiß hätte einer oder der andere gesagt: Nein,
ich mache es just nicht so, sondern ganz anders.
Aber das findet man nirgends — es gibt gar kein
Kunstwerk, das aus dem Stil seiner Zeit herausfällt,
der Stil steht über jedem wie eine höhere Gewalt.
Und wie das reichste Kunstwerk, so trägt auch die
einfachste Arbeit des einfachsten Handwerkers ebenso
unverkennbar die Merkmale des Stiles an sich. Also
der Stil war etwas, das ein jeder treffen konnte, ja,
treffen mußte, mochte er wollen oder nicht. Und
nun versuche man heute, diese für einen gotischen
oder barocken Künstler oder Handwerker ganz
selbstverständliche Sache zu treffen und etwas Go-
tisches oder Barockes zu machen — fast niemand
wird es so zustande bringen, daß es einen Kenner
täuscht. Also der Stil ist etwas so Weites, daß jeder
Zeitgenosse ohne Mühe daran Anteil hatte, und
zugleich etwas so Enges, daß jeder Nichtzeitgenosse
unfehlbar daneben trifft. Nun gehen wir um einen

Kunstgeschichtliches Jahrbuch der k. k. Zentral-Kommission 1911.

Schritt weiter: Wir alle haben noch eine recht gute
Vorstellung von den Künstlern der Sechziger- oder
Siebzigerjahre. Wir wissen sehr gut, es war dies eine
Zeit, in der man sich künstlerisch gewiß nicht sehr ge-
bunden fühlte. Der eine hielt's mit der Gotik, der
andere mit dem Romanismus, der dritte mit der Re-
naissance, ein jeder glaubte arbeiten zu können, wie
er wollte, und sich das Vorbild zu nehmen, wo er
wollte. Es ist nun ganz merkwürdig, daß wir heute
trotz der äußersten Mannigfaltigkeit der Ornamentik
und der Richtungen schon genau sagen können: das
ist ein Haus oder ein Gegenstand oder ein Möbel
aus den Sechziger- oder Siebzigerjahren und jenes
ist es nicht. Also auch diese Künstler und Hand-
werker waren Gefangene ihres Stiles, und zwar genau
des Stiles der Sechziger- und Siebzigerjahre, nicht
etwa des gotischen oder Renaissancestiles, in dem sie
zu arbeiten glaubten. Nur — merkwürdigerweise die
Zeitgenossen erkennen ihren Stil nicht, die glauben
ganz frei zu sein oder auch sich an ein Fremdes
binden zu können nach ihrem Belieben.

Und so wie das vor 40 und 50 Jahren war,
wird das wohl immer der Fall gewesen sein. Der
Stil ist eben etwas schlechterdings Unbewußtes und
darum völlig Zwingendes.

Zu bemerken ist ferner, daß sich die eng um-
schriebene Formenwelt des Stiles auf alle Gebiete
der Kunst, ja, überhaupt der äußeren Darstellung
erstreckt und in sich etwas ganz Harmonisches und
Geschlossenes ist. Ein Kunsthistoriker wird bei einiger
Aufmerksamkeit trotz recht geringen Verständnisses
auch ein gehörtes Musikstück richtig in eine gewisse
Zeit einordnen können. Ebenso ist der Zusammen-
hang der jeweiligen Volkstracht mit dem Zeitstil
unverkennbar, und da möchte ich nur auf die leisen
Änderungen hinweisen, die z. B. unsere steirische
Gebirgstracht von der Empirezeit an, aus welcher
sie in zahlreichen Darstellungen erhalten ist, bis in
unsere Zeit erfahren hat. Ja, Riegt. hat sogar den
Versuch unternommen, die Stiländerungen mit dem
Wechsel der Weltanschauungen in Zusammenhang
zu bringen. Schon durch diese weite Ausdehnung
des Herrschaftsgebietes eines Stiles fallen alle jene
Erklärungsversuche, die den Stil aus rein materiellen
Ursachen, wie dem Stande der Technik, dem Material,
ableiten wollen, zusammen. Der Zusammenhang ist
ein viel tieferer, Stil und Zeitgeist gehören zusammen
wie Körper und Seele, ja, vielleicht ist der Stil nichts
anderes als das körperliche Gesicht der Massenseele.

Welches der kausale Zusammenhang zwischen
dem Ablauf der geistigen Strömungen und der genau
umschriebenen Formenwelt ist, die daraus hervorgeht,
ist bis jetzt noch von niemand völlig aufgedeckt

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