Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kemp, Wolfgang; Heck, Kilian [Hrsg.]
Kemp-Reader: ausgewählte Schriften — München, Berlin: Dt. Kunstverl., 2006

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55647#0078

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
76

Masaccios »Trinität« im Kontext

Und was längst nicht mehr mit Masaccios Strenge und Konsequenz der Koordinierung
appliziert werden mußte, sondern im Gegenteil zu spielerischer Erprobung und neuer Viel-
falt Anlaß gab, wenn die Umgebung »stimmte«, wenn der Einzelstatus des neuen Bildes
durch die neue Umgebung gesichert war. Dies sind nicht unwesentliche Differenzen, die
das Erscheinungsbild, aber nicht den grundsätzlichen Status der Renaissancekunst be-
treffen Das neue Bild funktioniert als Figur vor weißem und als Figur vor figuriertem
Grund, weil es in sich komplett ist und seine notwendige Kontextergänzung im Betrach-
ter findet. Je mehr es sich aus dem Kontext löst oder der Kontext es freigibt, desto stärker
tritt das Prinzip der Intertextualität in Erscheinung, womit wir zum Anfang zurück-
kehren. Das neue Bild sucht seine Relation jetzt in der Konstellation aller abwesenden
Werke. Dennoch ist die Auseinandersetzung mit den anwesenden Werken, ist die Be-
hauptung im konkreten Umraum, statt im geistigen Raum der Kunstgeschichte nie
beendet. Auch durch noch so entschlossene Maßnahmen und Akzente nicht. Masaccios
Trinitätsfresko ist eben für beides ein so wichtiges Beispiel: für die Setzung wie für die
Fortsetzung. Daß ihm unsere Gegenwart auf geradezu devote Weise Recht gibt, darf uns
nicht dazu verführen, die eingreifende Rezeption von sechs Jahrhunderten, all das, was
sich zwischen den unbekannten Künstlern des 14. Jahrhunderts, zwischen Masaccio,
Vasari und den Restauratoren des 19. und 20. Jahrhunderts abspielte, als nebensächlich
oder zufällig abzutun. Nicht das Schicksal, sondern die Geschichte der Kunst auch nach
Masaccio ist es, daß die Bedingungen, die er vorfand und überwinden wollte, sich nicht
geändert haben. Natürlich walten andere Strukturgesetzlichkeiten, wenn wir von einer
Kirche des 14. und 15. Jahrhunderts, von einer fürstlichen Kunstsammlung oder vom
Salon des 19. Jahrhunderts sprechen. Aber das Erscheinungsbild hält sich; Reichtum, Viel-
falt, Verwirrung bleibt die Devise der (Kunst-)Geschichte; erst die bürgerlichen Institu-
tionen des Museums und der Kunstwissenschaft haben Konzentration und Isolation zur
Maxime ihres Handelns erklärt und an ihnen die Kunst nachträglich ausgerichtet: gegen
oder mit deren Tendenz, da wurde nicht lange gefragt. Was wir hier erarbeitet haben, hat
weder nur für den Sonderfall Geltung, noch sind hier schon die überzeitlich wirksamen
Lösungen genannt. Die Künstler mußten sich immer wieder Neues einfallen lassen, wenn
ihr Werk im Kontext bestehen sollte.” Masaccios »Lösung« Selbstkonstitution durch
Anerkennung des Betrachters war eine Möglichkeit, eine große und ausbaufähige, aber sie
blieb nicht die einzige.
Abbildungsnachweise:
Sopraintendenza per i beni artistici e storici, Gabinetto Fotografico, Florenz (7, 9, 10)
Bildarchiv Foto Marburg (8, 11)
Alinari, Florenz (1,19, 20, 21, 22, 2j)

55 Zu anderen rezeptionsästhecischen Strategien s., was die Kunst des 17. Jahrhunderts anbelangt, meine im
Druck befindliche Arbeit über Rembrandts Kasseler Hl. Familie mit dem Vorhang und, für das 19. Jahr-
hundert, das Schlußkapitel in: Der Anteil des Betrachters. Rezeptionsästhetische Studien zur Malerei des
19. Jahrhunderts, München 1983.
 
Annotationen