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Kemp, Wolfgang; Heck, Kilian [Hrsg.]
Kemp-Reader: ausgewählte Schriften — München, Berlin: Dt. Kunstverl., 2006

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https://doi.org/10.11588/diglit.55647#0268

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266

Ellipsen, Analepsen, Gleichzeitigkeiten

geht. Zu der doppelten Anstrengung der Bilder muß notwendig die radikale zeitliche
Perspektivierung treten, die der Text vorgibt.
Aber auch in den Bildern sorgt Egg für einen doppelten Boden. Das geniale Spiel mit
den »Unbestimmtheits-« und den »Bestimmtheitsstellen« in der Mitte der Gemälde,
dieser Zyklus aus Raum- und Zeitzeichen im Zyklus, wird jeweils durch sehr viel kon-
ventionellere Zutaten ergänzt. In I sind es je zwei Gemälde an der Wand, die der ersten
Geschichte präludieren: Links - das ist offenbar die Seite der Frau - erscheinen überein-
ander ihr Porträt und eine Vertreibung aus dem Paradies — der Apfel, den die Frau schälte,
als das Geschehen kulminierte, gehört dem gleichen Symbolkreis an. Rechts ist dem Por-
trät des Mannes Clarkson Stanfields Bild eines aufgegebenen Schiffes »The Abandoned«
beigegeben. Die Porträts der Eltern wiederholen sich an vergleichbarer Stelle in II, und
hier ist es interessant zu beobachten, wie ihre Präsentation »erzählt«. Die Vorgabe des
Textes ermöglicht es uns, die demonstrative Verschattung des Vaters als Hinweis auf
seinen Tod und die Form des Schattens eventuell als Kirche oder Grab oder Grabkapelle
zu lesen. Hingegen ist das Bild zur linken, das Porträt der Mutter genau zur Hälfte ver-
schaltet; dieses Faktum deutet auf das Potential hin, das ihre Gestalt, ihre Existenz noch
für die Geschichte bereithält. Egg erweist sich hier als gelehriger Schüler Hogarths, sowohl
was den Einsatz eines zweiten Registers als auch die Technik des Verschattens im allge-
meinen und des partiellen Verschattens im besonderen angeht. Die zusätzlichen Bot-
schaften des dritten Bildes sind in schriftlicher Form gehalten. Auf den Plakaten über der
verlorenen Mutter heißt es unter anderem: »Victims. A Cure for Love. Pleasure Excursions
to Paris. Return.« Die Zeichen an der Wand lesen sich in etwa als die gleiche Mischung
aus Schatten und Licht, aus Verurteilung und Hohn auf der einen und Verständnis und
Hoffnung auf der anderen Seite, wie sie über dem Bild der Mutter in II liegt. Wir berüh-
ren hier schon Techniken des Erzählens in Erzählungen, die Gegenstand einer eigenen
Studie sein müßten. An dieser Stelle wollte ich nur darauf hinweisen, wie die enormen
Spannungen aufgefangen werden, die sich aus der Verknappung des Zyklus (nur drei
Bilder), aus den komplizierten Konstruktionen (Rückgriff im Rückgriff) und aus der
radikalen Differenz der Zeitintervalle (I-II/III = ca. io Jahre; II-III = o) ergeben. Unter-
und Überkodifizierungen arbeiten in den Bildern nicht viel anders zusammen, als Text
und Bild es tun.
Abbildungsnachweis: Abb. i: William Hogarth: The Harlot's Progress (1731). Blatt I (Harlot, die Unschuld vom
Lande, kommt in die Stadt). Abb. 2: Hogarth (wie Abb. 1), Blatt II (Harlot, die Kurtisane, macht ihrem jüdischen
Freund eine Szene, um den Abgang ihres Liebhabers zu decken). Abb. 3: Hogath (wie Abb. 1), Blatt III (Harlot in
Bedrängnis, sie wird verhaftet). Abb. 4: William Hogarth: Before (1736). Abb. 3: William Hogarth: After (1736).
Abb. 6: Max Klinger: Der Gang zur Bergpredigt (1877). Ehemals Berlin, Kupferstichkabinett. Abb. 7: Max Klinger:
Die Rückkehr von der Bergpredigt (1877). Berlin, Kupferstichkabinett. Abb. 8: Rembrandt: Christus predigend (um
1632). Abb. p—n: Augustus Leopold Egg: Post and Present I—III.
 
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