Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 6.1890-1891
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Presber, Rudolf: "Poberetto", [2]: Novellette
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Poveretto". Novellette. von Rudolf Presber
gesellen läßt es sich hier in Venedig schlecht leben, wenn
man meinen Körper hat."
Es gibt keinen peinlicheren Moment, als wenn
Leute, die ein Gebrechen haben, darüber sprechen, und
man doch weder etwas zu sagen hat, noch weiß, was
man für eine Miene zeigen soll. Ich schwieg beharrlich
und gab mir den Anschein, als ob ich aufmerksam den
Menschenstrom betrachte, der sich vom Uhrturin her über
den Platz ergoß.
„Ich erwarte Sie also in einer Stunde im Restau-
rant; Sie können gar nicht fehlgchen; hier am Cafe
Florian und Case Svizzero vorbei kommen Sie zu der
ersten kleinen Lagunenbrücke und von der aus sehen Sie
schon in den Garten hinein!"
Er reichte mir die Hand und wir trennten uns. —-
Als ich nach einer Stunde mich durch die Gondoliere
und Wasserverkäufer am Quai, durch die Proletarier,
Dandies und Blumenmädchen auf dem Markusplatz durch-
gewunden und glücklich Brückchen und Garten gefunden
hatte, sah ich meinen kleinen Bekannten einsam an einem
Tisch sitzen. Rings um ihn waren alle Tische besetzt;
es wurde viel gelacht, man unterhielt sich laut, und für
ein Künstlerauge lag sicherlich viel Fesselndes in einzelnen
dieser Gruppen unter dem sternhellen Himmel; aber der
Kleine starrte mit fast wilder Miene in sein Glas, und
seine kurzen Beine, die den Erdboden nicht erreichten im
Sitzen, hatte er wider den Tisch gestemmt; seine Haltung
war so zwar nicht anstößig, aber trotzig und unfreundlich,
wie er sich bei unsrer Begegnung vorhin nicht gezeigt
hatte.
Als ich ihm jetzt einen guten Abend bot und bei
ihm am Tische Platz nahm, sah er mich zuerst wie geistes-
abwesend an, dann schien er sich zu besinnen; sein Gesicht
hellte sich auf, und er zog die Beine zurück und reichte
mir die Hand.
„Guten Abend", sagte er freundlich, „Sie strahlen
ja vor Freude, als wenn die Musen und Grazien zu-
sammen Ihnen Besuch gemacht hätten."
„Das gerade nicht", sagte ich fröhlich, „denn ich
bin weder ein Künstler, noch ein Günstling der Musen,
sondern ein schlichter Jünger Merkurs, der sich einmal
den Geschäften entrissen hat, um für drei Wochen Polenta
zu speisen."
„Aber nur bildlich gesprochen", meinte der Kleine,
„oder Sie verlieren einen Socius."
„Gewiß nur bildlich! aber im Ernst, ich bin sehr-
vergnügt."
„Sie haben einen Gruß aus der Heimat bekommen?"
„Ja; einen sehr lieben Brief von meiner jungen
Frau; denken Sie, mein kleiner Stammhalter hat sein
erstes Zähnchen bekommen!"
„Ich gratuliere", sagte er lächelnd, „das sind auch
die einzigen Apparate, mit denen der Mensch etwas an-
fangen kann in der Welt, diese, die jetzt bei ihrem
Der Künstler als Familienvater. Von Adolf Hengeler
SS. Bd. 18S8)
gesellen läßt es sich hier in Venedig schlecht leben, wenn
man meinen Körper hat."
Es gibt keinen peinlicheren Moment, als wenn
Leute, die ein Gebrechen haben, darüber sprechen, und
man doch weder etwas zu sagen hat, noch weiß, was
man für eine Miene zeigen soll. Ich schwieg beharrlich
und gab mir den Anschein, als ob ich aufmerksam den
Menschenstrom betrachte, der sich vom Uhrturin her über
den Platz ergoß.
„Ich erwarte Sie also in einer Stunde im Restau-
rant; Sie können gar nicht fehlgchen; hier am Cafe
Florian und Case Svizzero vorbei kommen Sie zu der
ersten kleinen Lagunenbrücke und von der aus sehen Sie
schon in den Garten hinein!"
Er reichte mir die Hand und wir trennten uns. —-
Als ich nach einer Stunde mich durch die Gondoliere
und Wasserverkäufer am Quai, durch die Proletarier,
Dandies und Blumenmädchen auf dem Markusplatz durch-
gewunden und glücklich Brückchen und Garten gefunden
hatte, sah ich meinen kleinen Bekannten einsam an einem
Tisch sitzen. Rings um ihn waren alle Tische besetzt;
es wurde viel gelacht, man unterhielt sich laut, und für
ein Künstlerauge lag sicherlich viel Fesselndes in einzelnen
dieser Gruppen unter dem sternhellen Himmel; aber der
Kleine starrte mit fast wilder Miene in sein Glas, und
seine kurzen Beine, die den Erdboden nicht erreichten im
Sitzen, hatte er wider den Tisch gestemmt; seine Haltung
war so zwar nicht anstößig, aber trotzig und unfreundlich,
wie er sich bei unsrer Begegnung vorhin nicht gezeigt
hatte.
Als ich ihm jetzt einen guten Abend bot und bei
ihm am Tische Platz nahm, sah er mich zuerst wie geistes-
abwesend an, dann schien er sich zu besinnen; sein Gesicht
hellte sich auf, und er zog die Beine zurück und reichte
mir die Hand.
„Guten Abend", sagte er freundlich, „Sie strahlen
ja vor Freude, als wenn die Musen und Grazien zu-
sammen Ihnen Besuch gemacht hätten."
„Das gerade nicht", sagte ich fröhlich, „denn ich
bin weder ein Künstler, noch ein Günstling der Musen,
sondern ein schlichter Jünger Merkurs, der sich einmal
den Geschäften entrissen hat, um für drei Wochen Polenta
zu speisen."
„Aber nur bildlich gesprochen", meinte der Kleine,
„oder Sie verlieren einen Socius."
„Gewiß nur bildlich! aber im Ernst, ich bin sehr-
vergnügt."
„Sie haben einen Gruß aus der Heimat bekommen?"
„Ja; einen sehr lieben Brief von meiner jungen
Frau; denken Sie, mein kleiner Stammhalter hat sein
erstes Zähnchen bekommen!"
„Ich gratuliere", sagte er lächelnd, „das sind auch
die einzigen Apparate, mit denen der Mensch etwas an-
fangen kann in der Welt, diese, die jetzt bei ihrem
Der Künstler als Familienvater. Von Adolf Hengeler
SS. Bd. 18S8)