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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 6.1890-1891

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Pecht, Friedrich: Die Münchener Jahres-Ausstellung von 1891, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.10736#0392

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von Friedrich pecht

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sie auf dem Standpunkt der absoluten Nachbetung verharren wird, den jetzt so viele Anhänger des Neuen noch
einnehmen. Glücklicherweise gelingt es immer mehreren unsrer Künstler, sich demselben frei gegenüberzustellen
und es nicht blos mit unbedingter Bewun-
derung, sondern mit gesunder Kritik zu
betrachten und sich davon nur das anzu-
eignen, was sie ihrer ganzen Individualität
nach für sich brauchen können. Daß man
vom Kunstwerk nicht nur eine nach be-
stimmten Rezepten gefertigte Abschrift der
Natur, sondern vor allem den Ausdruck
der besonderen Auffassung des Künstlers,
seiner individuellen Art, Menschen und
Dinge anzuseheu, verlangen müsse, das
findet bereits wieder bei allen denen An-
erkennung, die eine solche eigenartige An-
schauung von Haus aus besitzen. Vollends
die ideale Welt der Dichtung, Mythe, ja
selbst der alten Geschichte zu verleugnen,
sich blos an die nüchterne Wirklichkeit und
Gegenwart zu halten, das konnte den deut-
schen Künstlern ohnehin nie einfallen. —

Dafür hatte die neue Richtung doch immer
so viel Einfluß, daß unsre Malerei noch
mehr als je vorher zu Hanse blieb und
dem Leben um uns herum seine schönsten
oder doch ergreifendsten Seiten abzuge-
winnen suchte. Vielleicht wird sie auch
bald wieder finden, daß das Proletariat
unsrer großen Städte keineswegs der inter-
essanteste Teil unsrer bürgerlichen Gesell-
schaft ist und damit den stark sozialdemo-
kratischen Zug, den sie jetzt hat, etwas
abstreifen. Daß sie ihn überhaupt bekam,
ist an sich aber kein schlechtes Zeichen, weil
es beweist, daß sie mit dem wirklichen
Leben in genauere Verbindung getreten
war, als dies früher gar oft der Fall
gewesen. Nur sollte sie sich wieder er-
innern, daß es für die Figurenmalerei
jeder Art vor allem gilt, Charaktere und
Individualitäten zu geben ruzd daß man
diese zwar in allen Stünden,^ui denen aber
doch am ehesten finden kann, die von der
einförmigen Last der täglichen Brotarbeit
nicht in denn Maße erdrückt sind, wie das
Proletariat/) Es ist kein Zufall, daß die
Dichtung wie die bildende Kunst von jeher
mit besonderer Vorliebe jene höheren Ge-
sellschaftsschichten ausgesucht haben, die sich
zu größerer Freiheit und Unabhängigkeit
von den Forderungen der Notdurft des
Lebens aufgeschwungen und dadurch mehr
Gelegenheit zur Entfaltung ihres indivi-
duellen Wesens gehabt haben. Speziell die
Frauenschönheit kömmt ja ohne Pflege gar nicht zur vollen Entwicklung, und die Rafael'schen Madonnen
haben nicht umsonst alle etwas Vornehmes, Fürstliches, selbst wenn sie barfuß gehen. Ebenso wird unsre Kunst
sicher auch bald wieder anfhören, ihre eigene Geschichte und das Vorbild der großen Meister der Renaissance

Bildnis der Gräfin Julius Kärolyi und ihres Sohnes
von I. Benczür

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