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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 16.1918

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Liebermann, Max: Anschauung und Idee
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https://doi.org/10.11588/diglit.4745#0057

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erkennen. Vergleichen wir damit die beiden Ge-
dichte, die dieselben Stoffe wie die Zeichnungen
behandeln. „Der Besuch" und „Ilmenau": keine
Zeile könnte von einem andern als von Goethe
herrühren, eine jede atmet sein Genie. Goethe, als
geborener Dichter, fasste die Natur poetisch auf,
während er als geschickter Dilettant als Zeichner
nur Kopist der Natur war. „

Die schöpferische Form entspringt immer der
Auffassung der Natur, wobei es ganz gleichgiltig
ist, ob der Künstler sie unmittelbar der Natur oder
mittelbar aus dem Gedächtnis der Natur entnimmt.
Nur die Form ist schöpferisch, die der Künstler
aus erster Hand, das heisst aus der Natur hat, anders
wäre sie ja nur Reproduktion einer schon vor-
handenen Form, also keine originale Form mehr.
Und es leuchtet von selbst ein, dass nur die originale
Form eine schöpferische sein kann, denn nur sie
giebt die Naturauffassung ihres Schöpfers wieder.
Das soll nicht etwa heissen, dass jeder Meister neue
Formen erfindet, sondern die vorhandenen werden
unter seiner Hand zu neuen Formen, indem er ihnen
seinen Geist aufprägt. Lessing, Goethe oder Schiller
erfinden nicht etwa neue Worte, aber ihr Geist
schafft aus dem überkommenen Sprachschatz eine
Lessingsche, Schillersche, Goethesche Sprache.

Eine vollendete Form kat'exochen kann es da-
her nicht geben. In jedem Meister vollendet sich
seine Form, in Raffael die Raffaelische wie in
Rembrandt die Rembrandteske Form, was Sendling
höchst geistreich, wenn auchnichtganzphilosophisch
in die Worte kleidet: „Nur durch die Vollendung
der Form kann die Form vernichtet werden, und
dieses ist allerdings im Charakteristischen das letzte
Ziel der Kunst."

„Stirb und werde!" Alle Kunst bewegt sich in
den Grenzen zwischen der typisch allgemeinen und
der inviduell charakteristischen Form: sie strebt zum
Typus, wenn sie sich vollendet, aber ihre Vollendung
trägt den Todeskeim in sich und, wie der Greis am
Ende seiner Tage, geht sie an Blutleere und Mangel
an pulsierendem Leben zu Grunde. An ihre Stelle
tritt die neue, inviduelle Form, erzeugt aus der
frischen Berührung des Künstlers mit der Natur.
Und dieser Prozess des Werdens und Vergehens, der
die Kunst ausmacht, vollzieht sich in der Form mit
jedem neuen Künstler von neuem, denn in jedem
Künstler vollendet sich die Form, und sie ist voll-
endet, wenn der Künstler in ihr das ausgedrückt
hat, was er hat ausdrücken wollen, und das ist nicht,
wie Sendling sagt, im Charakteristischen das letzte

Ziel der Kunst, sondern das letzte Ziel der Kunst
ist das Charakteristische.

Ich bin in der glücklichen Lage, als Eideshelfer
hierfür keinen Geringeren als Schiller anführen zu
können, der i 797 im dritten Jahrgange der „Hören",
drei Aufsätze Hirths veröffentlichte — und er würde
sie nicht veröffentlicht haben, wenn er ihren Inhalt
nicht gebilligt hätte — aus denen ich folgendes
hersetze.* Hirth schreibt: „Dass ich mit Winkel-
mann nicht übereinstimme, wenn er das erste Ge-
setz der bildenden Künste bei den Alten in eine
stille Grösse setzt. Zweitens: dass auch Lessing sich
täuschen liess, indem er die Schönheit als erstes
Gesetz der bildenden Künste aufstellen wollte.
Drittens: dass das ganze Altertum Herrn Lessing
widerspricht, wenn er Wahrheit und Ausdruck als
streng zu beobachtende Gesetze verwirft. Viertens:
dass, was die Alten unter Vollkommenheit oder
Schönheit der Kunst verstanden, nichts Anderes
war als Charakteristik".

Weshalb ich diese Sätze zitiere? Weil sie hier
ebenso richtig wie aktuell erscheinen, heut zu Tage,
wo die jüngste Richtung in der Kunst — deren
Matadore bezeichnender Weise, längst das Schwaben-
alter überstanden haben — den Naturalismus glaubt
überwunden zu haben, indem sie die Charakteristik
und die Naturwahrheit der sogenannten Schönheit
zum Opfer bringt. Allerdings ist charakteristisch
nur ein relativer Begriff, und jeder Maler wird be-
haupten, dass er seine Vision von der Wirklichkeit
so charakteristisch als möglich im Bilde wiedergäbe,
der Kubist, der aus seinem menschlichen Kopf ein
Dreieck macht, ebenso so sehr wie der Futurist, der
aus einem Pferde ein mehr dem Känguruh ähnliches
Wesen zaubert. Beide behaupten, dass sie die Natur
so sehen wie sie sie darstellten, und wenn wir die
Natur anders sähen, so wäre das unsere Schuld, da
wir ihre Formensprache ebenso wenig verständen,
wie wir vor fünfzig Jahren die Impressionisten nicht
verstanden hätten. Ich könnte nun mit Lichtenberg
erwidern: „Wenn ein Buch und ein Kopf zusammen-
stossen und es klingt hohl, ist das allemal im Buch:"
Doch selbst zugegeben, dass ich vielleicht zu dumm,
jedenfalls zu alt zum Umlernen bin — „in einem
gewissen Alter muss man mit Bewusstsein stehen
bleiben" — in einem Punkte werden mir selbst die
enragiertesten Futuristen recht geben müssen, dass ihre
Götter Cezanne und van Gogh stets bemüht gewesen
sind, die Natur so treu wie. möglich darzustellen.

* Das Heft der „Hören" verdanke ich der freundlichen
Hülfe des Herrn Prof. Dr. Hans Mackowsky.

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