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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 16.1918

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Heft 7
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Weisbach, Werner: Matthias Grünewald, [1]: Formales und Psychologisches
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https://doi.org/10.11588/diglit.4745#0280

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mystischen Naturalismus. Zu derselben Auffassung
bekannte sich der Mainzer Prälat Friedrich Schnei-
der unter Bezugnalme auf Huysmans in seinem
Aufsatz: „Grunewald und die Mystik" (abgedruckt
in seinen „Gesammelten Aufsätzen" 1013 Band 1).
Spricht man von Einfluss der Mystik, so hat man
aber zweierlei zu unterscheiden: einmal die künst-
terisch formale Ausprägung bestimmter sachlicher
Inhalte und bildlicher Vorstellungen, die in der
Tradition der katholischen Mystik lebendig gehalten
wurden, sodann das Einströmen einer allgemein
religiösen mystischen Stimmung oder einer persön-
lichen mystischen Veranlagung und Geistesrichtung
in die Werke. Auf das erste legt Schneider, auf
das zweite Huysmans den Nachdruck. Muss jenes
durch einen ikonographischen Nachweis exakt
bewiesen werden können, so ist dieses nur gewissen
Anzeichen zu entnehmen, die dem Ahnungsvermögen
einen weiteren Spielraum geben und sich, wenn sie
sich zu einem überzeugenden Gesamtbild verdich-
ten, für die Urteilsbildung werten lassen. Was uns
zur Lösung der Frage wesentlich erscheint, wollen
wir in dem Folgenden aneinanderreihen und es dann
dem Leser anheimgeben, aus einer Kombination
der beigebrachten Argumente seine Schlüsse zu
ziehen.

Eine der Begleiterscheinungen und eines der
wesentlichsten Hilfs- und Förderungsmittel der
Mystik ist die Ekstase, ein Zustand von Bewusst-
losigkeit, in dem der praktizierende Mystiker die
Vereinigung mit dem Göttlichen sucht und ihrer
teilhaftig wird. Denken wir an jene Fälle von Ver-
zückung, ekstatischem Ausdruck und Ohnmacht,
die wir in Grünewalds Werken — als eine Aus-
nahmeerscheinung innerhalb' seiner Umgebung —
auffanden, so dünkt es uns nicht zu gewagt, das
auf eine Berührung mit der Mystik zurückzuführen.
Auch jener spätere Geistesverwandte des Meisters,
Greco, in dessen Kunst die spanische Mystik an den
Tagen der heil. Theresa einen Niederschlag ge-
funden hat, operiert mit solchen Zuständen von
Entrücktheit, wobei der Körper seiner natürlichen
und normalen Funktionen beraubt ist, um das Ge-
heimnisvolle des religiösen Erlebnisses in eine bild-
hafte Form zu fassen.

Weiter legt es die besondere, in ihrer Eigenart
von uns gekennzeichnete Ausprägung des Leidens
Christi nahe daran zu erinnern, dass das Nachleben
und Nachfühlen dieses Leidens unter den quälend-
sten Selbstpeinigungen und asketischen Bussübungen
zu den Aufgaben und Bedürfnissen der katholischen

Mystiker gehört, von Heinrich Suso bis Frau von
Guyon. Leiden ist das eigentliche Lebenszentrum
der Mystiker. Suso symbolisiert es einmal unter
dem Bilde von vier roten Rosen und ruft dabei aus:
„Ach, zarter Herr, dass Leiden dem Menschen so
gar weh thut, und es ihn doch geistlich so schön
zieret, das ist ein wunderlich Gefüge von Gott!"
In seiner Lebensbeschreibung schildert er alle die
Marter, die er sich in der Jugend zufügte, um sein
Fleisch abzutöten: wie er ein Kleid mit spitzen
Nägeln trug, die sich in seinen Leib einbohrten,
wie sich Gewürm in die Wunden setzte und ihn
nachts peinigte, wie er, um das Jucken der Wurm-
stiche nicht durch Kratzen zu lindern, vor dem
Schlafengehen mit Stiften besetzte Handschuhe an-
legte, die das Fleisch zerrissen, wenn er sich Linde-
rung verschaffen wollte. Der Geist, der in einem
zerquälten und den Lebenstrieben abgewendeten
Leibe triumphiert und der Vereinigung mit Gott
teilhaftig wird, das ist die Vorstellung, welche
die Mystiker ständig begleitet. Das Gefühl des
Leidens wird ihnen zur Lust, ja zur Wollust. Ganz
abgesehen sei dabei von dem psychologischen
Konnex zwischen religiösem Gefühl, Wollust und
Grausamkeit, der das Bereich pathologischer Ab-
normitäten berührt. Bei Grünewald ist es auch
der entsetzlich verstümmelte Leib, der in Christus
triumphiert, und mit einer unverkennbaren Ab-
sichtlichkeit wird dieser Leib mit allen Folgen der
erduldeten Qualen so bis ins einzelne nachfühlbar
hingestellt, wie Suso uns das Martyrium seiner
Askese in allen Einzelheiten aufdrängt und zum
Bewusstsein zu bringen sucht. Wir wissen auch,
dass Mystiker sich gern Bilder in ihrer Umgebung
hielten, um sich das Leiden vor Augen führen und
im Ausharren ermahnen zu lassen. Suso bestellte
bei einem Maler „die heiligen Altväter und ihre
Sprüche und etliche andere andächtige Materien,
die einen leidenden Menschen reizen zur Geduld in
Widerwärtigkeit." Und auch die heilige Teresa
stärkte sich an einem Bild des Gekreuzigten in ihrer
Zelle. Ästhetische Ansprüche werden solche From-
men an ihre Erbauungsbilder nicht gestellt haben.
Dem grossen Künstler, der ein religiöses Problem
ergreift, wandelt sich dieses zugleich aber in ein
ästhetisches Problem und erhält dadurch auf seinem
eigensten Gebiet seine bestimmte Prägung.' Dass
die bei Grünewald bis zum Aussersten gehende ge-
fühlsmässige Intensivierung des Leidens mystischem
Empfinden entgegenkam oder auch entsprang,
glauben wir annehmen zu dürfen. (Abb. 12.)

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