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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 16.1918

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Heft 7
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Weisbach, Werner: Matthias Grünewald, [1]: Formales und Psychologisches
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https://doi.org/10.11588/diglit.4745#0283

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wie bei der „Geburt Christi", weiss Grünewald dem
Ganzen einen mysteriösen Charakter zu wahren. Es
ist ja immer Aufgabe eines grossen Künstlers, wenn
ihm ein theologisch lehrhafter Stoff zur Bearbeitung
gegeben wird, den rational gehaltenen Stoff in ein
irrationales inneres Erlebnis umzuwandeln, das Ge-
fühlsmässige herauszuschälen und der Anschauung
zugänglich zu machen. Öffnete sich das erste Isen-
heimer Flügelpaar mit der erschütternd grausigen
Kreuzigung, so bot sich dem Blick die jubelnde
Feierpracht der Ankunft des Herrn. In ein Ensemble
von bunter rauschhafter Wirkung ist das Wunder
der Menschwerdung zusammengefasst.

Grünewald, der alle seine Kräfte spielen Hess,
um sich dem Wunderbaren zu nähern, verwendete
auch als erster unter den Deutschen die Farbe als
koloristisches Ausdrucksmittel für diese Aufgabe.
Das Mysterium des Religiösen interpretierte er durch
das Mysterium der Farbe. Wie bestimmend der
Einschlag des Mysteriösen in seiner kirchlichen
Kunst ist, lässt sich besonders deutlich empfinden
bei einem Vergleich mit Dürer, bei dem dieser Zug
nur wenig ausgebildet ist. Man braucht bloss an
sein Allerheiligenbild zu denken, das sich neben
Grünewalds phantastischen Eingebungen wie ein
kühler Rechenschaftsbericht ausnimmt. Es ist auch
kein Zufall, dass dieser der erste deutsche Meister
ist, der himmlische Erscheinungen in den Lüften
in spezifisch koloristischer Weise behandelte, indem
er ihnen durch eine aufgelöste Wiedergabe und
malerisch-andeutende Technik, so dass sie in der
Atmosphäre gleichsam zu zerfliessen scheinen, einen
visionären Charakter zu verleihen suchte. Die Häu-
figkeit solcher Darstellungen lässt darauf schliessen,
wie sehr ihn das Problem fesselte.

Haben wir uns klar gemacht, mit welcher In-
tensität Grünewald auf das Mysteriöse ausgeht, und
sehen wir, mit welcher Überschwänglichkeit sich
seine Ausdrucksweise in Höhen und Tiefen, in
Jubel und Schrecken stürzt, so werden wir die
Werke wohl als Bekenntnisse einer mystisch ge-
stimmten Seele hinnehmen dürfen; nicht als ob wir
sagen wollten, er sei ein praktizierender Mystiker
gewesen, aber er gab sich mit seiner Kunst doch
wohl besonders intensiv an das mystische Teil des
Christlich-Religiösen hin. Es liegt im Wesen der
Mystik, dass sie sich mehr dem Ahnungsvollen als
dem Begrifflichen zuwendet, dass sie das Gefühls-
mässige vor dem Verstandesmässigen bevorzugt.
Ihr Streben ist, die Grenzen zwischen dem Diesseits

und dem Jenseits zu nähern, bis sie ineinanderfliessen.
Den Weg, der dahin führt, bahnt sich die Seele
durch Hingebung,Hochgestimmtheit, Enthusiasmus.
Wenn es möglich ist, innere Erlebnisse durch adä-
quate Anschauungswerte nacherlebbar zu machen, so
täuschen wir uns vielleicht nicht, wenn wir in Grüne-
walds Kunst an manchen Stellen das Hindurchzittern
eines mystischen Orgiasmus zu verspüren meinen.

Mystik und Romantik stehen in einem engen
Konnex miteinander und entfliessen derselben Ge-
fühlssphäre. Die Phantasie, die, dem Religiösen
und Übersinnlichen zugewendet, mystisch erscheint,
giebt sich in ihren Beziehungen zu Welt und Natur
romantisch. Die romantische Betrachtung nimmt
die Welt als etwas Fliessendes. Sie folgt dem Trieb
alles mit Gefühl und Stimmung zu durchsetzen.
Der Romantiker projiziert das dem Poetisch-
Wunderbaren zugewendete Gefühlsleben seiner
Innerlichkeit in die Aussenwelt und sieht von der
Natur das Bild dieser Innerlichkeit zurückgespiegelt.
So wird ihm die Natur zu einem beseelten Kosmos.
Grünewalds romantische Veranlagung zeigt sich
deutlich in seinem Verhältnis zur Landschaft. Nicht
nur dass er sie in spezifischem Sinne romantisiert,
indem er den Faktoren, welche die Assoziationen
des Wunderbar-und Märchenhaft-Romantischen
begünstigen, besondere Beachtung schenkt, er lässt
auch den Ton, der in der Figurenkomposition an-
geschlagen wird, in dem landschaftlichen Schauplatz
mit- und weiterklingen. Bei den „Kreuzigungen"
trägt dieser dazu bei, den düster-unheimlichen
Charakter des menschlichen Vorgangs zu begleiten
und zu vertiefen. Die Szenerie auf dem Bilde der
beiden heiligen Einsiedler des Isenheimer Altars,
die nach der Legende die Thebaische Wüste vor-
stellen sollte, weist alle die Züge auf, die durch
deutschen Märchengeist eine poetische Färbung er-
halten haben: Waldmotive, knorrig verschlungenes
Gezweig, mit Moosen und hängenden Flechten
überwuchert, eine Quelle von Blumen umrandet,
ein seltsames Felsentor, vor dem ein Hirsch auf
einer Wiese äst und das einen Durchblick gewährt
auf ein liebliches, von einem Bach durchschlängel-
te^ Tal, in der Ferne zackig in die Lüfte ragende
blaue Berge; nur eine Palme deutet an, dass das
Ereignis im Orient zu denken ist. Traulich und
schwermütig, vielfältig,kraus,bizarrund träumerisch,
das ist das Bild, wie es aus Grünewalds Natur-
phantasie entspringt. Er ist einer der Entdecker
der romantischen Landschaft.

(Schluss folgt.)

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