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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 16.1918

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Heft 7
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Weisbach, Werner: Matthias Grünewald, [1]: Formales und Psychologisches
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https://doi.org/10.11588/diglit.4745#0282

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Darlegung des Marburger Theologen, so sehen
wir, dass eins der Elemente, durch das die Reli-
gionen eine Vorstellung von dem Numinosen
zu geben suchen, das über alle Massen Schreck-
liche, der „heilige" Schauer ist (von Otto tremen-
dum genannt). Dieses Elementes wusste sich die
aus dem Kult geborene und mit dem Kult in Zu-
sammenhang gebliebene grieschische Tragödie in-
nerhalb ihrer hohen ästhetischen Sphäre in ausser-
ordentlichem Maasse zu bedienen. Von dieser Seite
vermag man in den psychologischen Untergrund der
Grünewaldschen Darstellung zu dringen. Der Gott-
mensch ist in einem Zustand gegeben, dass von ihm
ein alles menschliche Mass übersteigender Schauder
ausgeht. Der Betrachter wird mit allen Fasern sei-
nes Seins gepackt und in einen solchen Grad von
Erschütterung und Scheu versetzt, der jenseits aller
gewöhnlichen Erfahrung liegt und so in die Sphäre
des Religiösen führt. Auf dem Isenheimer Bilde ist
auch die ganze Stimmung, wie wir schon oben an-
deuteten, danach angethan, in dieser Richtung zu
wirken. Mit dem mystischen Schauer ist als reli-
giöses Ausdrucksmoment das Erhabeue verkettet,
das auch eine Qualität des Numinosen ist, die sich
in ästhetische Werte umsetzen lässt. Das Erhabene,
wo wir uns dessen in einer künstlerischen Dar-
stellung bewusst werden, ist eine ihr inhärente
Eigenschaft, ohne dass sich das Wie begrifflich
fixieren lässt. Wie sehr die Isenheimer „Kreuzigung",
obwohl aus Elementen bestehend, die aus der
Kategorie des Natürlichen nicht heraustreten, von
einer transzendenten Erhabenheit erfüllt ist, davon
vermag sich jeder Beschauer Rechenschaft zu geben.
Allein die Gestalt des Täufers genügte, um solch
ein Gefühl aufzurufen.

Was den kirchlichen Bildern Grünewalds ein
ganz besonderes und eigenes Gepräge verleiht, ist
die Fähigkeit und Vielseitigkeit der Mittel, wodurch
das Wunderbare, Mysteriöse der Vorgänge veran-
schaulicht wird. Hatte das deutsche fünfzehnte
Jahrhundert in seiner zweiten Hälfte die biblische
Gedankenwelt ins Menschlich-Bürgerliche, ja Spiess-
bürgerliche herabgezogen, wozu der Einfluss des
geistlichen Schauspiels nicht unwesentlich beitrug,
so ist es ihm darum zu thun, den Anschein des Wun-
derbaren zu wahren. Die Wunder der heiligen
Schriften sollen als Mysterien wirken und empfun-
den werden, von den Schleiern des Geheimnisvollen
umwoben sein.

Der Auferstehung Christi des Isenheimer Altars
lässt sich an visionärem Schauungsvermögen nichts

Gleichartiges in der damaligen nordischen Kunst an
die Seite stellen. Das fünfzehnte Jahrhundert gab
gewöhnlich unter Anlehnung an das Passionsspiel
in derb handgreiflich realistischer Weise Christus
langsam aus dem Grabe steigend, neben dem Sar-
kophag stehend oder schreitend. Das Ganze ist
rationalistisch und sozusagen nachkonstruierbar
zurechtgelegt. Bei Grünewald stehen wir vor einem
Wunder. Es ist Nacht. Christus entschwebt dem
Grabe, indem der Körper sich dem Bahrtuch ent-
windet, durch eigene Schwungkraft gen Himmel
getrieben; das Tuch flammt und züngelt in buntem
Schein aus dem Sarkophag auf wie feurige Lohe.
Der Oberkörper Christi scheint sich, aller Materia-
lität entkleidet, aufzulösen und wie ein duftiges
Luftgebilde überzufliessen in den Glanz der Strahlen-
glorie, die die Gestalt umgiebt und sich von dem
schwarzen, mit Sternen besäten Nachthimmel abhebt.
Auf der Erde herrscht Dunkel; die grossartigen
Wächterfiguren sind nur von Reflexlicht erhellt.

In die Sphäre des Wunderbaren führt ferner die
„Versuchung des heiligen Antonius", jene viel darge-
stellte Szene, bei der die Grundelemente immer die
gleichen sind. Grünewald schöpft auch hier aus
eigenen Quellen. Der zu Boden geworfene Heilige
wird von dem dicht gedrängten Heer der Unholde
bedrängt; Zwitter, aus allerhand Tierbildungen zu-
sammengesetzt, die sich nicht als die mehr lächer-
lichen und komischen Tröpfe geben, wie man sie
auf altdeutschen Bildern zu sehen gewohnt ist, son-
dern deren Wirkung durch den Einschlag des Dämo-
nischen bestimmt wird. Auf die Gesichter dieser
Monstra hat Grünewald seine physiognomischen
Erfahrungen übertragen und ihnen dadurch eine
besondere Art von unheimlicher Lebendigkeit ver-
liehen. Man glaubt ihnen allerhand menschliche
Anzüglichkeiten und Laster ablesen zu können. Als
Kulminationspunkt gleichsam des Schauerlichen
hockt links im Vordergrund die Figur des Syphilis-
oder Leprakranken, am ganzen Leib von Beulen be-
deckt, die ein Stück bresthaften menschlichen Elends
dem Teufelsspuk beimischt, was den Eindruck des
Unheimlichen erhöht. Das Wunderbare vollzieht
sich unter höchst bizarren und grotesken Formen,
wie sie der Ausdrucksweise dieser künstlerischen
Natur eigentümlich sind. Durch die Verbindung
des „mysteriosum" und „tremendum" wird hier
wie bei den „Kreuzigungen'' der Versuch gemacht,
die religiöse Phantasie anzuregen.

Auch wo die Darstellung mit scholastisch-dog-
matischen und symbolischen Zuthaten angefüllt ist,

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