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Kleinpaul, Rudolf; Heinrich Schmidt & Carl Günther [Contr.]
Neapel und seine Umgebung: mit 142 Illustrationen — Leipzig: Heinrich Schmidt & Carl Günther, 1884

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https://doi.org/10.11588/diglit.55172#0059
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Fragt man, was der Neugeborne für einen Namen bekommen werde, so ist zehn gegen
eins zu wetten, den Namen Gennaro: wie wahrscheinlich schon der Vater Gennariello oder Gennari
oder de Januariis, kurz nach dem Januar heisst.
Wie viel Niklas es auf dem Fischlande, wie viel Wenzel es bei den Böhmen, wie viel
Pantaleon es bei den Venetianern, wie viel Basilios es bei den Griechen, so viel Gennaro gibt
es bei den Neapolitanern: es ist ein Volk von Januaren, wie die Römer ein Volk von Märzen
sind. Der heilige Januarius, weiland Bischof zu Beneventum und als solcher, nebst seinen Diakonen
Festus und Proculus, im Jahre 305 unter Diocletian zu Pozzuoli enthauptet, ist der Schutz-
patron von Neapel, seine Leiche, welche zur Zeit Constantins durch den heiligen Bischof Severus
nach Neapel übertragen ward, das vornehmste Heilthum dieser Stadt und das Flüssigwerden
seines kostbaren, in zwei Ampeln auf bewahrten Blutes ihr Hauptfest: das Wunder erfolgt
jährlich dreimal, am ersten Samstag Abend im Mai, am 19. September und am 16. Dezember.
Der 19. September ist der Todestag des Heiligen, die beiden andern Daten beziehen sich auf die
Beisetzung seiner Reliquien erst in den Katakomben, dann im Dom. Hier haben sie nach
mannigfachen Schicksalen zu verschiedenen Theilen eine bleibende Ruhestätte gefunden: der Leib
ist unter dem Hochaltar des Doms, in der reichgeschmückten Confession begraben, das Haupt
und das wunderthätige Blut des Heiligen befindet sich in einer eigenen Kapelle, der sogenannten
Schatzkapelle (Cappella del Tesoro), in einem silbernen Schreine hinter dem Hochaltäre besagter
Kapelle. Ich erlaube mir, diejenigen unter meinen Lesern, die sich für den populären Heiligen,
seine ausserordentliche Wirksamkeit und Lebensgeschichte speciell interessieren sollten, auf das
erste Kapitel meines Buches Mediterranen, Lebens- und Lands chaftsbilder von den Küsten des
Mittelmeeres (Leipzig 1881) zu verweisen.
II.
Wir wollen uns Feste von weniger kirchlichem Charakter ansehn: wir wollen mit dem
kleinen Gennaro eine Pfingstwallfahrt nach dem Heiligthum der Madonna di Monte Vergine bei
Avellino unternehmen, auf einem Corricolo, mit Bändern und Federbüschen, mit Myrtenkränzen
und Haselnussketten, mit bunten Laternen und Madonnenbildern, mit Sang und Klang: die
Gebeine unseres grossen Schutzpatrons, des heiligen Gennaro, sind ihrerzeit selbst auf dem berühmten
Jungfrauberg gewesen, der infolge seines Reichthums an Reliquien und Kunstwerken zu den
vornehmsten Sanctuarien Italiens gezählt hat; auch ein kostbares Archiv befand sich hier, das jetzt
dem Staatsarchiv zu Neapel einverleibt ist. Die Reise dauert drei Tage: zurück geht’s über Nola
und die Madonna dell’ Arco am Fuss des Monte Somma, worauf zuguterletzt die Stadt Neapel
von einem Ende zum andern durchsaust wird. Sasa, die wilde verwegene Jagd! Die Menschen zu
fünfzehn, zu siebzehn pele-mele auf das pittoreske Gefährt gepackt, Mönche, Frauen, Lazzaroni
Gassenjungen alles durch und aufeinander, der Kutscher vorn auf der Deichsel hangend oder
hinten auf dem Sprungbrett schwebend und der Heerwurm von einem einzigen unglückseligen
Gaul im Galopp durch Wolken von wirbelndem Staub getragen! Die Landleute pflegen Planwagen
zu nehmen und weisse Ochsen oder einen Ochsen und ein Eselein vorzuspannen: so sieht man’s
auf dem bekannten Gemälde Leopold Roberts, dem das unsrige nachgebildet ist. Die neben-
herschreitenden Mädchen erinnern an die Horen auf Guido Reni’s Aurora
Es war im Jahre 1119, dass der heilige Wilhelm von Vercelli, Beichtvater des Grafen
Roger, in einer Schlucht des Monte Vergine, wo dereinst ein Heiligthum der Göttermutter stand,
ein Kloster der Mutter Gottes gründete: ein Wolf frass ihm seinen Esel, aber der heilige Mann
zwang das wilde Thier, selbst das Baumaterial zu schleppen, wie Sanct Theodul den Teufel zwang,

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