eine Glocke von Rom nach Sitten zu tragen; daher bildet auf Kunstwerken (zum Beispiel in der
Peterskirche) ein Wolf das Attribut des heiligen Wilhelm, wie ein Löwe das des heiligen Hieronymus.
Die Vita di San Guglielmo, 1158 in longobardischer Schrift auf Pergament geschrieben,
war einer der wichtigsten Codices in der Bibliothek. Die Abtei ward von den Benedictinern,
die sich immer gern auf hohen Bergen ansiedeln, streng genommen von einer eigenen, nach dem
Monte Vergine benannten Congregation, die weisse Kleider und weisse Scapuliere trug und drei
rothbekreuzte Berge im Wappen führte, bezogen, die Kirche 1182 eingeweiht, 1629 neu gebaut.
In ihr wollte Manfred begraben werden, aber Carl von Anjou gab seine Kapelle, als er bei Benevent
gefallen war, einem französischen Ritter. Im Jahre 1310 stiftete Katharina von Valois, Titular-
kaiserin von Constantinopel, ein alterthümliches Marienbild hierher, die stark nachgedunkelte
Vergine di Costantinopoli, deshalb auch Mamma Schiavona, die slavonische Mama genannt.
Seitdem heisst also der Berg, dessen 1308 m hoher Gipfel eine prachtvolle Aussicht über
die Golfe von Gaeta, Neapel und Salerno, die schneebedeckten Abruzzen und das ganze
Principato gewährt, wie der schweizer, Jungfrau oder Monte Vergine, und auf ihm finden
in den Pfingsttagen, sowie zu Mariä Geburt grosse, von Pilgern in den buntesten Trachten
besuchte Feste statt, die vielleicht eine Reminiscenz an die alten schwärmenden Umzüge der
Kybelediener sind.
In den geweihten Fichtenzweigen, die männiglich in der Hand getragen werden, in den
hölzernen Eimerchen und Körbchen, die daran befestigt sind, in den Klappern, in den Schellen,
in den Trommeln, in dem ganzen rauschenden Festesapparat — könnte ein Kundiger vielleicht
nicht ohne Grund Embleme und Attribute der uralten Göttermutter sehn.
Bis Mercogliano wird gefahren: die Besteigung des Berges geschieht zu Fuss während der
Nacht mit Fackeln; langsam, betend und Litaneien singend, ziehen die Pilgerschaaren bei Loreto, der
Wohnung des Abts und der älteren Mönche, vorüber und durch Eichenbüsche und Kastanienwälder
zu dem auf halber Höhe gelegenen, selbst im Hochsommer kühlen Heiligthum hinan. Wer
ein Gelübde erfüllen, wer eine Schuld abbüssen will, geht barfuss: oft begegnet man Gruppen
schöner junger Poenitentinnen, die in weissen Kleidern, mit aufgelöstem Haar, wie Engel des alten
Testamentes, durch die Schluchten gleiten, oben angekommen andächtig niederfallen, die Kirche
knieend durchrutschen, die Marmorfliessen küssen und sich auf diese Weise bis zum Altar schleppen.
Der Tag ist der heiligen Jungfrau geweiht, die Jungfrauen sind auch die Königinnen desselben:
ihnen zu Ehren werden von den Cantafigliole oder den Jungfernsängern eigene poetische
Wettkämpfe angestellt. Die Dichter fordern sich untereinander heraus, indem sie nach einer
bekannten Melodie Couplets improvisiren, deren stehender Refrain das Wort Figliole! Figliole!
das heisst Mädchen! Mädchen! ist; dieser Refrain wird von der Menge im Chorus mitgesungen.
Das Volk ist Kampfesrichter: der Preis des Sieges gewöhnlich eine seidene Börse. Figliole! Figliole!
ertönt es noch tausendstimmig am Molo und auf der Chiaia, wenn die Wallfahrer Corso halten.
Die Wallfahrt nach Monte Vergine ist für die Neapolitanerinnen das, was das Fest der
Vergine di Piedigrotta für die Calabreserinnen ist: ihre Hochzeitsreise; sie wird im Heiraths-
contracte stipulirt. Zur Madonna in reiner Aetherluft zu beten, die Tarantella zu tanzen und sich
einmal auszutollen, fünf Meilen in einer Stunde zurückzulegen, welch ein Hochgefühl! — Diese
wüthenden Jagden gehen fast nie ohne Unglücksfälle ab; das fährt drauf los, das rast wie besessen
in’s Zeug hinein, bis endlich einmal ein Wagen in Stücke bricht und die Insassen durcheinander-
stürzen: dann wird einen Augenblick Halt gemacht, Alles verstummt, man rafft die Trümmer
zusammen und hebt die Gefallenen auf. Es sind genug darunter, die für ihr Leben Krüppel
bleiben werden. Aber was liegt daran? Amüsement muss sein, und man lebt nur einmal! Die
verhängnissvollen Wettfahrten gehen wieder an, die Menschen fangen abermals an zu schreien
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Peterskirche) ein Wolf das Attribut des heiligen Wilhelm, wie ein Löwe das des heiligen Hieronymus.
Die Vita di San Guglielmo, 1158 in longobardischer Schrift auf Pergament geschrieben,
war einer der wichtigsten Codices in der Bibliothek. Die Abtei ward von den Benedictinern,
die sich immer gern auf hohen Bergen ansiedeln, streng genommen von einer eigenen, nach dem
Monte Vergine benannten Congregation, die weisse Kleider und weisse Scapuliere trug und drei
rothbekreuzte Berge im Wappen führte, bezogen, die Kirche 1182 eingeweiht, 1629 neu gebaut.
In ihr wollte Manfred begraben werden, aber Carl von Anjou gab seine Kapelle, als er bei Benevent
gefallen war, einem französischen Ritter. Im Jahre 1310 stiftete Katharina von Valois, Titular-
kaiserin von Constantinopel, ein alterthümliches Marienbild hierher, die stark nachgedunkelte
Vergine di Costantinopoli, deshalb auch Mamma Schiavona, die slavonische Mama genannt.
Seitdem heisst also der Berg, dessen 1308 m hoher Gipfel eine prachtvolle Aussicht über
die Golfe von Gaeta, Neapel und Salerno, die schneebedeckten Abruzzen und das ganze
Principato gewährt, wie der schweizer, Jungfrau oder Monte Vergine, und auf ihm finden
in den Pfingsttagen, sowie zu Mariä Geburt grosse, von Pilgern in den buntesten Trachten
besuchte Feste statt, die vielleicht eine Reminiscenz an die alten schwärmenden Umzüge der
Kybelediener sind.
In den geweihten Fichtenzweigen, die männiglich in der Hand getragen werden, in den
hölzernen Eimerchen und Körbchen, die daran befestigt sind, in den Klappern, in den Schellen,
in den Trommeln, in dem ganzen rauschenden Festesapparat — könnte ein Kundiger vielleicht
nicht ohne Grund Embleme und Attribute der uralten Göttermutter sehn.
Bis Mercogliano wird gefahren: die Besteigung des Berges geschieht zu Fuss während der
Nacht mit Fackeln; langsam, betend und Litaneien singend, ziehen die Pilgerschaaren bei Loreto, der
Wohnung des Abts und der älteren Mönche, vorüber und durch Eichenbüsche und Kastanienwälder
zu dem auf halber Höhe gelegenen, selbst im Hochsommer kühlen Heiligthum hinan. Wer
ein Gelübde erfüllen, wer eine Schuld abbüssen will, geht barfuss: oft begegnet man Gruppen
schöner junger Poenitentinnen, die in weissen Kleidern, mit aufgelöstem Haar, wie Engel des alten
Testamentes, durch die Schluchten gleiten, oben angekommen andächtig niederfallen, die Kirche
knieend durchrutschen, die Marmorfliessen küssen und sich auf diese Weise bis zum Altar schleppen.
Der Tag ist der heiligen Jungfrau geweiht, die Jungfrauen sind auch die Königinnen desselben:
ihnen zu Ehren werden von den Cantafigliole oder den Jungfernsängern eigene poetische
Wettkämpfe angestellt. Die Dichter fordern sich untereinander heraus, indem sie nach einer
bekannten Melodie Couplets improvisiren, deren stehender Refrain das Wort Figliole! Figliole!
das heisst Mädchen! Mädchen! ist; dieser Refrain wird von der Menge im Chorus mitgesungen.
Das Volk ist Kampfesrichter: der Preis des Sieges gewöhnlich eine seidene Börse. Figliole! Figliole!
ertönt es noch tausendstimmig am Molo und auf der Chiaia, wenn die Wallfahrer Corso halten.
Die Wallfahrt nach Monte Vergine ist für die Neapolitanerinnen das, was das Fest der
Vergine di Piedigrotta für die Calabreserinnen ist: ihre Hochzeitsreise; sie wird im Heiraths-
contracte stipulirt. Zur Madonna in reiner Aetherluft zu beten, die Tarantella zu tanzen und sich
einmal auszutollen, fünf Meilen in einer Stunde zurückzulegen, welch ein Hochgefühl! — Diese
wüthenden Jagden gehen fast nie ohne Unglücksfälle ab; das fährt drauf los, das rast wie besessen
in’s Zeug hinein, bis endlich einmal ein Wagen in Stücke bricht und die Insassen durcheinander-
stürzen: dann wird einen Augenblick Halt gemacht, Alles verstummt, man rafft die Trümmer
zusammen und hebt die Gefallenen auf. Es sind genug darunter, die für ihr Leben Krüppel
bleiben werden. Aber was liegt daran? Amüsement muss sein, und man lebt nur einmal! Die
verhängnissvollen Wettfahrten gehen wieder an, die Menschen fangen abermals an zu schreien
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