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Die Renaissance und Dürer

Sinne, daß er an die Stelle
spätgotischer Gebilde die
wiederbeseelten Formen
des klassischen Altertums
setzte. In Venedig hatte
er dieKunstwerke gesehen,
in denen die Formenwelt
der antiken Bau- und
Zierkunst sich widerspie-
gelte, und er huldigte dem
tonangebenden Geschmack
seiner Zeit, indem er ver-
suchte, in seinen eigenen
Schöpfungen derartige
Formen anzubringen.
Schon vor der veneziani-
schen Reise hatte er bis-
weilen — besonders im
Marienleben — sich be-
müht, aus unklaren Vor-
stellungen heraus Ge-
bäude, die der Antike glei-
chen sollten, zu ersinnen.
Jetzt besaß er, wenn auch
kein wirkliches Verständ-
nis, so doch immerhin
einige, durch die Anschauung von Erzeugnissen der oberitalienischen Renaissance
gewonnene Kenntnis von der Baukunst des Altertums. Wohl das hübscheste Bei-
spiel von seinen Versuchen, dasjenige, was er sich in dieser Beziehung angeeignet
hatte, selbständig zu verwerten, finden wir in einer Zeichnung vom Jahre 1809, die
im Baseler Museum aufbewahrt wird. Es ist eine in Federzeichnung mit darüber-
gelegter leichter Wasserfarbenmalerei festgehaltene Komposition, ein anmutig er-
sonnenes und reizvoll ausgearbeitetes Marienbild. In einer luftigen offenen Halle
sitzt die Jungfrau mit dem Kinde auf dem Schoß. Beide lauschen dem Spiel
kleiner Engel, während hinter ihnen der Nährvater Joseph arbeitsmüde am Tisch
eingeschlafen ist. Das Jesuskind hält einen Vogel auf der einen Hand, in der
anderen ein Säckchen Vogelfutter. Ein Korb voll Früchte bietet Erfrischung. Die
Musik der Engelkinder lockt Tiere herbei; Kaninchen kommen heran und machen
Männchen, ein Papagei blickt herab von seinem schaukelnden Sitz auf einem
Ziergehänge unter dem Deckengebälk. Unbeschäftigte Englein huschen umher,
bis hinauf auf das Balkengesims. Das alles und jegliches Beiwerk, Bank und
Stuhl und die Kissen darauf, die Kanne auf dem Tisch und das hängende Elöcklein
mit dem Elockenzug, die Landschaft draußen mit Baum und Stadt und Burg —
alles ist mit der feinsten Liebenswürdigkeit gestaltet; und aus dem heiteren, schön-
heitsfrohen Gefühl, das das Ganze beherrscht, hat der Künstler die Architektur der
Halle, spielend und doch ernsthaft, in antiken Formen ersonnen, mit korinthischen
Säulen und kassettiertem Tonnengewölbe (Abb. 70).
Im Jahre der Vollendung des Dreifaltigkeitsbildes gab Dürer seine „drei
großen Bücher" als ein zusammenhängendes Werk heraus' nämlich die inzwischen
fertig gewordenen Folgen des Marienlebens und der Passion und eine neue, um
ein Titelbild vermehrte Auflage der Apokalypse.
An der Spitze dieses großen Holzschnittwerkes steht das neugezeichnete Titel-
bild zum Marienleben. In diesem reizvollen Bild, das, um Platz für den Titel
zu lassen, nur einen Teil der Blattseite ausfüllt, sehen wir die Jungfrau Maria

Abb. 79. Der Schmerzensmann
Titelbild zu dem Holzschnittwerk „Die Große Passion" (Zu Seite78)


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