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Der Kreis: Zeitschrift für künstlerische Kultur ; Organ der Hamburger Bühne — 9.1932

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Nr. 5 (Mai)
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https://doi.org/10.11588/diglit.43625#0297
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DER KREIS
Zeitschrift für künstlerische Kultur
IX. Jahrgang
Fünftes Heft Mai 1932

Am Grabe des Camöes
Von Reinhold Schneider
Grab ist Symbol. Tiefer kann man es nicht empfinden als vor
dem Sarkophag, auf dem die Gestalt des portugiesischen Dich-
ters in Marmor gehauen mit betend erhobenen Händen liegt. Sie ist
gewandet in die schweren Stoffe der Renaissance; der Degen ruht;
unter der edlen Stirn sind die Lider friedvoll geschlossen; aber die
Hände, die eher die Hände eines Lebenden als die eines Toten
scheinen, verharren noch immer in der ernsten Geste des Gebets.
Das Volk braucht diesen Betenden; hier, wo trotz der Erschütte-
rungen einer verzweifelten Revolution, eines nur vermeintlichen
Einbruchs in das Neue, die alten Werte gelten, hatte man, um den
größten Dichter zu ehren, das Wort „heilig“ bereit; wie der Heilige
vor Gott um das ewige Heil derer fleht, mit denen gemeinsam er
lebte und litt, von denen er dennoch getrennt war und mehr und
mehr sich entfernte in der Gefolgschaft des auszeichnenden Rufs, so
bittet der Dichter für das Volk, aus dem er kam, vor der Welt um
den ewigen Namen.
Er bittet mit seinem ganzen Werk, das sein Leben völlig ver-
brauchte; dessen Anfang Geburt, dessen Ende Tod für ihn war; mit
diesem Werk, das sich als einzige portugiesische Vollendung aus den
Trümmern seines eigenen Lebens und dem gewaltigen Trümmerfeld
des nationalen Schicksals hob. Hört ihn die Welt? Zur Linken des
Betenden ist eine Nische in die Wand der Kapelle gewölbt; dort,
auf dem Steine, den Blicken der Wenigen entzogen, die Santa Maria
besuchen, dem Großen und seinem Schlafe nicht allzunah, erläge
man vielleicht einer persönlichen Erschütterung, stände nicht auch
jetzt die Macht des Gesetzes unverrückbar da. Denn tragischer
konnte die Tat mit dem Fall nicht verbunden sein; endgültiger die
Katastrophe sich nicht ereignen nach der endgültigen Leistung,
Des Dichters vergängliches Gewand ruht nicht in dem prächtigen
Sarkophag; niemand weiß, wohin die Pestwoge es warf, die in der
Todesstunde des Reiches aufstieg zwischen den morschen Häusern
von Lissabon und Stadt und Land mit Toten überdeckte, als der
Eroberer sie betrat. In den schweren Schritt der einziehenden spa-
nischen Truppen hallte die Sterbeglocke, und Gras wehte ihnen auf
den Straßen entgegen; Portugal war so glücklich, zu sterben vor

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