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Der Kreis: Zeitschrift für künstlerische Kultur ; Organ der Hamburger Bühne — 9.1932

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Nr. 12 (Dezember)
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https://doi.org/10.11588/diglit.43625#0733
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DER KREIS
Zeitschrift für künstlerische Kultur
IX. Jahrgang
Zwölftes Heft Dezember 1932

Der Tänzer und sein Instrument^
Von Mary Wigman
Der tänzerische Blick
Viele Merkmale weist der seinem lebendigen Instrument verhaftete
tänzerische Mensch auf, die ihn eindeutig als Tänzer kennzeich-
nen, Das untrüglichste Zeichen seiner Tänzerschaft aber ist das
Auge, dessen Blick sich mit der einsetzenden Konzentration auf den
tänzerischen Vorgang verwandelt und den Tanzenden stigmatisiert.
Dieser jedem Tänzer eigentümliche Blick ist ein Sehen ohne wahr-
zunehmen, ist ein die dingliche Umwelt durchdringendes Schauen
in die Weite, in den Raum, ins Nichts. Der Tanzende löscht die
Welt der Realitäten um sich aus und beschwört in sich das Bild
seiner inneren Schau, Der starre Glanz des tänzerischen Auges ist
nicht leblos, denn er ist Spiegel jener geheimnisvollen Kräfte, die
gestaltschaffender Antrieb sind. Die jeweilige Tanzgestaltung be-
stimmt auch den Blick des Tänzers, Der tänzerische Blick ist visio-
näres Schauen,
Dieser Blick, der den inneren Vorgang nach außen projiziert, ist
auch das eigentliche Verständigungsmittel der echten Tänzer unter-
einander. Im Banne dieses sich gegenseitig durchdringenden Blickes
vermögen sie miteinander zu tanzen. Immer sind es die Augen, die
sich begegnen, noch ehe die Körper voneinander wissen. Es ist, als
ob das Auge die innere Schwingung dem sichtbaren Bewegungsvor-
gang vorausschickt und so eine Verständigungsmöglichkeit schafft,
die durch äußere Ausgleichung der Formvorgänge niemals zu er-
reichen ist. Und nur dort, wo die Bewegung durch den ekstatisch
gerichteten Blick empfangen und weitergegeben wird, verbinden sich
die Instrumente in reinem Zusammenklang. Hier liegt auch das Ge-
heimnis des überzeugenden und sich selbst tragenden Gruppentanzes,
Der Tanzbegleiter, sofern er etwas vom Wesen des Tanzes ver-
steht, liest Einsatz und Tempo von den Augen des Tänzers und nicht
von Händen oder Füßen ab.
Auch der für Tanz empfängliche Zuschauer wird im Augenblick
wirklicher Hingerissenheit, ohne es zu wissen, seinen Blick auf das
Auge des Tänzers konzentrieren, denn nur von diesem Punkt aus
*) Ausgewählte Abschnitte.

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