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Künstle, Karl; Friedrich <I., Baden, Großherzog> [Gefeierte Pers.]
Die Kunst des Klosters Reichenau im IX. und X. Jahrhundert und der neuentdeckte karolingische Gemaeldezyklus zu Goldbach bei Ueberlingen: Festschrift zum 80. Geburtstage seiner koenigl. Hoheit d. Grossherzogs Friedrich von Baden — Freiburg i. Br. [u.a.], 1906

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https://doi.org/10.11588/diglit.7735#0073
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II. Der neuentdeckte karolingische GemäUlezyklus.

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Ich erinnere daran, daß Kraus den Oberzeller Zyklus in die Zeit des
Abtes Witigowo verlegte; wer an dieser Ansicht festhält, muß auch die Gold-
bacher Malereien dem Ende des 10. Jahrhunderts zuweisen. Doch hat Kraus
in der Altersbestimmung der St Georgskirche von Adler sich irreführen lassen,
der ohne jeden Anhalt in den Quellen und ohne daß der Charakter des Baues
dazu nötigte, das Langhaus, dessen Oberwände die Gemälde tragen, in das
Ende des i o. Jahrhunderts verlegte. Ich muß unbedingt daran festhalten,
daß die St Georgskirche in ihrer heutigen Form von Hatto III. um 890 erbaut
wurde, während die Cella Hattonis mit dem quadratischen Chor, den halb-
kreisförmigen Querhausflügeln und dem einschiffigen Langhaus von Hatto L
stammt. Aus der Zeit Hattos III. stammen auch die Wandgemälde, und die-
selben Maler haben kurz vorher oder unmittelbar darauf das Goldbacher
Kirchlein mit einem ähnlichen Zyklus geschmückt. Beide Zyklen gehören noch der
karolingischen Zeit an; sie sind die ältesten Erzeugnisse monumentaler Wand-
malerei, die uns diesseits der Alpen erhalten sind.

Das ist ein Resultat von der allergrößten Wichtigkeit, denn damit ist
der so oft beklagte und von den Kunsthistorikern so schmerzlich empfundene
Verlust der karolingischen Wandmalereien gehoben.

Kraus, Springer, Beissel, Vöge, Haseloff, die Oberzeller Bilder zur Würdigung
der neutestamentlichen Szenen in den großen Bilderhandschriften aus der otto-
nischen Zeit heranziehen und sie scheinbar ohne Schwierigkeit in der sog.
ottonischen Renaissance unterbringen. Es muß zugegeben werden, daß sie als
Illustrationen neutestamentlicher Heilstatsachen dem Codex Egberti, dem ottoni-
schen Evangeliar in Aachen, der Cimelie 58 in München, dem Epternacensis usw.
viel näher stehen als den Evangeliarien und Perikopenbüchern der Karolinger-
zeit, die den heiligen Text nicht illustrieren und sich auf Kanonestafeln und
Evangelistenbilder beschränken. Das Harley-Evangeliar und jenes von Soissons
kommen mit ihren wenigen und rein dekorativ verwendeten neutestamentlichen
Sujets hier nicht in Betracht. Es gibt allerdings einen neutestamentlichen Bilder-
kreis in der Karolingerzeit, aber er ist in Handschriften niedergelegt, wohin er
streng genommen nicht gehört, nämlich in Sakramentarien, besonders im Drogo-
Sakramentar, und im Utrecht-Psalter. Merkwürdigerweise ist hier das öffentliche
Leben Jesu fast ganz übergangen, und insbesondere vermißt man die acht
Wunder Christi von Oberzell vollständig. Es hat demnach den Anschein, als ob

RETEN aber die beiden Zyklen von Goldbach und Reichenau-
Oberzell nicht störend in den Bilderkreis der karolingischen Zeit ?
Diese Frage muß um so eher untersucht werden, als alle Forscher,
die sich mit der frühmittelalterlichen Malerei beschäftigten, wie

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