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Künstle, Karl; Friedrich <I., Baden, Großherzog> [Honoree]
Die Kunst des Klosters Reichenau im IX. und X. Jahrhundert und der neuentdeckte karolingische Gemaeldezyklus zu Goldbach bei Ueberlingen: Festschrift zum 80. Geburtstage seiner koenigl. Hoheit d. Grossherzogs Friedrich von Baden — Freiburg i. Br. [u.a.], 1906

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https://doi.org/10.11588/diglit.7735#0074
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6o

IT. Der neuentdeckte karolingischc (leinählezyklus.

rein ikonographisch genommen die beiden Zyklen von Goldbach ünd Oberzell
nicht in die Karolingerzeit verlegt werden dürfen. Allein der karolingische
Bilderkreis des Neuen Testamentes darf nicht nur aus den Miniaturen er-
schlossen werden; seine wichtigsten Quellen sind vielmehr die Beschreibung der
Palastkirche zu Ingelheim des Ermoldus Nigellus und die Carmina Sangallensia
Aus diesen Quellen ergibt sich, daß das öffentliche Leben und gerade die Wunder-
taten unserer beiden Zyklen den Mittelpunkt der monumentalen Wandmalerei des
9. Jahrhunderts bildeten. Mit den beiden, leider nicht mehr erhaltenen Bilder-
serien tritt der Bildschmuck in Goldbach und Oberzell in die engste Beziehung;
nur haben die Reichenauer Maler als echte Künstler sich auf die wichtigsten
Wundertaten beschränkt. Damit haben sie einen doppelten Zweck erreicht:
der Beschauer wurde durch die zu große Zahl der Szenen nicht ermüdet, und
dem Maler blieb Gelegenheit, wirklich monumentale Darstellungen zu geben.

Den karolingischen Ursprung des Zyklus in Oberzell hat Leitschuh 2 ge-
ahnt, wenn er des öfteren auf den engen und höchst auffallenden Zusammen-
hang desselben mit den Carmina Sangallensia zu sprechen kommt; er betont
seine nahe Verwandtschaft mit der altchristlichen Kunst in der Gesamtauffassung
wie in der Wiedergabe der einzelnen Szenen. Er möchte ihn darum gerne
als karolingisches Erzeugnis ansprechen, wenn die Datierung von Kraus nicht
als Hindernis im W eg stünde. Schließlich entscheidet er sich dahin, daß uns
in den ()berzeller Gemälden Kopien von karolingischen Bildwerken vorliegen 3.
Nein, Kopien sind es nicht, sondern wie jene in Goldbach Originale aus der
Karolingerzeit.

Wie sich beide ihrem materiellen Inhalt nach aufs beste in den Bilderkreis
der karolingischen monumentalen Wandmalerei einfügen, so läßt sich in ihrer
iormalen Gestaltung kein Motiv aufweisen, das der karolingischen Formensprache,
wie wir sie aus den Miniaturen kennen, widerspräche. Ich erinnere daran,
daß die großen, .scheibenartigen Nimben des Martinus und Priscianus, die über-
einander geschlagenen Beine des einen Bahrenträgers, die Gewandung der Hilte-
purg—das Umschlagtuch mit einem Zipfel über den Nacken heraufgezogen dient
zugleich als Kopfschleier — in den karolingischen Miniaturen wiederkehren 4.

Allerdings steht der Oberzeller Zyklus, und wie wir jetzt hinzufügen dürfen,
auch der Goldbacher, dem Codex Egberti, der Cimelie 58 und andern Hand-
schriften der Reichenauer Zentralschule des io. Jahrhunderts materiell sehr
nahe, in der formellen Behandlung ist doch ein himmelweiter Unterschied. Wenn

1 Siehe Schlosser, Schriftquelled 321 326.

2 Geschichte der karolingischen Malerei, ihr Bilderkreis und seine Quellen, Berlin 1894, 371 ff.

* Zu einem ähnlichen Resultat kommt auch Schmarsow in seinem schon oben berührten Aufsatz über
die Kompositionsgesetze der Keichenaucr Wandgemälde (Repertoriuin für Kunstwissenschaft XXVII 261 ff).
4 Vgl. Leitschuh 385 ff.
 
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