DOI Heft:
No. VII/VIII (Juli/August)
DOI Seite / Zitierlink: https://doi.org/10.11588/diglit.47238#0145
ÜBER KÜNSTLER UND KUNSTWERKE
VON
HERMAN GRIMM.
No. VII. VIII.
Juli. Au g u s t.
1865.
ALBRECHT DÜRER IN VENEDIG.
I.
Es ist ein Zug des deutschen Wesens, dal's wir bei grofsen
Künstlern mehr auf den Charakter als auf die Werke achten. Wir
wollen lieber den Geist verstehen aus dem geschaffen worden ist,
als geniefsen was er geschaffen hat. Wir gehen auf die letzten
Gründe der Dinge.
Hieraus entspringend der Drang das Persönliche zu erforschen.
Bei unserer Betrachtung Goethe’s ist es soweit gekommen beinahe,
dafs wir um seine Erlebnisse besser, als in seinen Werken Bescheid
wissen. Von Raphael ist die fabulöse Liebschaft mit der sogenann-
ten Fornarina zumeist bekannt und von Michelangelo die Verehrung
für Vittoria Colonna. Danach fragen Viele fast allein. Und bequemt
man sich dann, auch die Werke gelten zu lassen, so wird sogleich
die Frage aufgeworfen, unter welchen Umständen sie entstanden,
welchen Einflüssen ihre ersten Gedanken, sodann ihre Form zuzu-
schreiben sei, und welche Stellung einem jeden in der Reihe der übri-
gen zukomme. Die blofse Hingabe, das Entgegennehmen eines Kunst-
werkes als eines Geschenkes des Himmels das man empfängt, ohne
zu fragen woher es stammte, sondern in das; man sich vertieft wie
ein Kind in den Apfel dem ihn die Mutter in die Hände giebt, ist
selten und wird bei uns nur in den jüngeren Jahren gefunden, wo
es noch nicht schicklich ist sich über den Gönüls mit Sicherheit
aussprechen zu wollen, oder im hohen Alter, wo Mancher das Ideale
als absichtliche Tröstung unmittelbar wieder auf sich wirken läfst.
In den Jahren jedoch wo man der Welt kräftig angehört, ist unser
Genufs niemals ohne die stärkste Beimischung kritischer Bedächtigkeit.
Ueber Künstler und Kunstwerke. 12
VON
HERMAN GRIMM.
No. VII. VIII.
Juli. Au g u s t.
1865.
ALBRECHT DÜRER IN VENEDIG.
I.
Es ist ein Zug des deutschen Wesens, dal's wir bei grofsen
Künstlern mehr auf den Charakter als auf die Werke achten. Wir
wollen lieber den Geist verstehen aus dem geschaffen worden ist,
als geniefsen was er geschaffen hat. Wir gehen auf die letzten
Gründe der Dinge.
Hieraus entspringend der Drang das Persönliche zu erforschen.
Bei unserer Betrachtung Goethe’s ist es soweit gekommen beinahe,
dafs wir um seine Erlebnisse besser, als in seinen Werken Bescheid
wissen. Von Raphael ist die fabulöse Liebschaft mit der sogenann-
ten Fornarina zumeist bekannt und von Michelangelo die Verehrung
für Vittoria Colonna. Danach fragen Viele fast allein. Und bequemt
man sich dann, auch die Werke gelten zu lassen, so wird sogleich
die Frage aufgeworfen, unter welchen Umständen sie entstanden,
welchen Einflüssen ihre ersten Gedanken, sodann ihre Form zuzu-
schreiben sei, und welche Stellung einem jeden in der Reihe der übri-
gen zukomme. Die blofse Hingabe, das Entgegennehmen eines Kunst-
werkes als eines Geschenkes des Himmels das man empfängt, ohne
zu fragen woher es stammte, sondern in das; man sich vertieft wie
ein Kind in den Apfel dem ihn die Mutter in die Hände giebt, ist
selten und wird bei uns nur in den jüngeren Jahren gefunden, wo
es noch nicht schicklich ist sich über den Gönüls mit Sicherheit
aussprechen zu wollen, oder im hohen Alter, wo Mancher das Ideale
als absichtliche Tröstung unmittelbar wieder auf sich wirken läfst.
In den Jahren jedoch wo man der Welt kräftig angehört, ist unser
Genufs niemals ohne die stärkste Beimischung kritischer Bedächtigkeit.
Ueber Künstler und Kunstwerke. 12