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Einleitung.

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Das nationale Element weiss sieh in kurzer Zeit mit Entschiedenheit
geltend zu machen; der einseitigen klassischen Reminiscenz in denjenigen
Gegcnden, wo römische Bevölkerung ansässig gebliehen war, tritt das
ebenso kühne und strenge wie phantasievolle Yerhalten der germanischen
Yölker gegenüber, bei denen sich bald, je nach der Begabung der ein-
zelnen Stämme, Schwere und Leichtigkeit des Sinnes, Starrheit und kecke
Lust unterscheiden, während die mannigfachen Grade ihrer Mischung mit
römischer Nationalität zu verschiedenartig erhöhter Mischung der künst-
lerischen Grundelemente führen. Dazwischen taucht, urthiimlicheren Sin-
nes als jene beiden grossen Factoren, das alte Keltenthum, das schon in
der altchristlichen Epoche (in den irischen Kunstversuchen) Zeugnisse
seines Fortlebens abgelegt hatte, mit mancher seltsam formalen Eigen-
thümlichkeit hervor, theils unverhiillt, theils wie ein künstlerisches Räth-
selwort, das nicht selten der Miihen des Forschers zu spotten scheint.
Auf slavische und magyarische Stämme werden die neuen Kunstformen
übergetragen und aueh von diesen vielleicht nicht durchaus ohne Bethä-
tigung ihrer Eigenthiimlichkeit aufgenommen. Auch Ferneres übt, bei
den noch andauernden oder erneuten Bewegungen des Yölkerlebens, sei-
nen Einfluss aus. Das Yorbild der byzantinischen Kunst giebt wiederum
Gelegenheit zu manchen Einzelstudien; die Kunst der Araber, im Osten,
Süden und Westen, ist so lebhaften Reizes voli, dass die Berührung mit
diesem Yolke auch auf die occidentalische Kunst zurückwirken muss.
Aus der Fülle solcher Grundbeziehungen, aus den "Wirkungen und Gegen-
wirkungen, die sie aufeinander ausüben, baut sich die grosse Gesammt-
erscheinung der Kunst des occidentalischen Mittelalters auf. Ihre Ge-
sammtaufgabe ist: dem gläubigen Bewusstsein, das dieses Wechselspiel
nationaler Existenzen durchleuchtet, der religiösen Weltanschauung, welche
dem Wirrsal irdischen Dranges ein einiges himmlisches Gnadenreich gegen-
überstellt, lebendige Form und erwecklichen Ausdruck zu geben.

Aber der Elemente waren zu viele und zu verschiedenartige, die
Gegensätze zwischen dem, je nach der volksthümlichen Anlage sich ent-
wickelnden Katurtriebe und dem geistigen Endziele, welches der religiöse
Glaube gesteckt hatte, zu mächtig, als dass der Bildungsgang dieser mit-
telalterlichen Kunst in stetiger und gleichartiger Folge hätte vor sich
gehen können. Während an einer Stelle mit hohem Sinne, über das
Yermögen noch ungebildeter Kraft hinaus, dem Edelsten und Bedeutungs-
vollsten nachgestrebt wird, schleppt sich an andern Stellen ein dumpfes
und trübes Wesen hin, knechtischen Bildungen zugewandt, deren Yer-
kehrtheit nur hemmend wirken konnte. W ährend hier Gedanke und
Phantasie sich in maassvoller Klarheit kund thun, schweifen sie dort ins
Maasslose und Ungeheuerliche hinaus. Während das nationale Gefühl
geneigt erscheint, an gewonnenen Resultaten zu beharren und diese, in
einem mehr abgeschlossenen Kreise der künstlerischen Crestaltung, ihrer
Besonderheit gemäss auszubauen, giebt die geistige Speculation den An-
trieb, solche Schranken zu durchbrechen und die Gemeinsamkeit des
geistigen Strebens aueh in der künstlerischen Form darzustellen. Die
Schritte der Entwickelung sind mannigfaltig, die Ausgangspunkte. der
einzelnen Fortschritte bei den verschiedenen Yölkern verschiedenzeitig.
 
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