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XII. DIE KUNST DES OCCIDENTALISCHEN MITTELALTERS

E i n 1 e i t u n g.

Bis y.nm zehnten Jahrhundert hatte in den westeuropäischen Landen
der altchristliche Kunststyl geherrscht, in den Formen antiker Tradition,
in denen das neue geistige Bedürfniss seinen Ausdruck suehte, unter
einzelnen Einflüssen der byzantinischen Kunst, welche jenen Formen ein
dem Orient zugeneigtes Gepräge gegeben hatte. Die nordischen Natio-
nen waren, sehr geringe Ausnahmen abgerechnet, noch nicht vermögend
gewesen, auf das Ueberlieferte eine selbständige Einwirkung auszuüben.
Mit der Epoche des zehnten Jahrhunderts traten veränderte Yerhältnisse
ein. Aus dem wirren Gemisch der Yolksstämme, welche die Stürme der
grossen Yölkerwanderung durcheinander getrieben, aus den volksthüm-
lichen Conglomeraten, die während der Dauer von Jahrhunderten in un-
organischer Yerbindung durcheinander gelegen, gingen neue Nationen
imd Staaten in eigenthümlicher, innerlich sich entwickelnder Gestaltnng,
in mehr oder weniger bestimmter Abgrenzung hervor. Mit selbständiger
Kraft, in vielfach verschlungener AVechselwirkung, verbunden durch die
Gemeinsamkeit des religiösen Bekenntnisses und der kirchlichen Institu-
tionen, griffen sie nunmehr in den Kunstbetrieb ein, zu dessen Bethäti-
gung die neue Gestalt des Lebens aufforderte.

Zunächst konnte allerdings wiederum nur an das Ueberlieferte ange-
knüpft werden. Die altchristliche Kunstform, dem gemeinsam kirchlichen
Bande entsprechend, welches die jungen Nationen umfasst hielt, bildete
die durch die Natur der Verhältnisse gegebene Grundlage des neuen
Bchaffens. Auch konnte das letztere, da jene Kunstform schon entartet,
da die nordischen Nationen nicht im Besitz einer eigenthümlichen künst-
lerischen Tradition von irgend umfassenderer Bedeutung waren, nur mit
mehr oder weniger barbaristischen Anfängen beginnen. Aber ein freier
und unbekümmerter Sinn, der sich nicht selten, auch wo die Behandlung
eine derbe Bohheit zeigt, zu ernsthafter Grösse steigert, bekundet bald
das Wehen des neuen Geistes. In verständiger Benutzung vorliegender
Einzelmotive, in der Austiefung ihres Inhaltes, in der Offenbarung einer
Phantasie, die — oft zwar abenteuerlich und ungelenk — stets reich-
licher und reichlicher strömt, prägt sich das Siegel seiner Herrschaft aus.
 
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